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Montag, 24. März 2014

Liebe Eva,

unser armer Blog muss immer leiden, wenn sich Lyrik oder Wissenschaftliches (oder oder) arbeitstechnisch in den Vordergrund schieben, wenn das Leben uns übel mitspielt oder auch etwas Superschönes, aber Zeitaufwändiges passiert. Macht nichts, denke ich, denn wir sind ja ein privater Blog, der sich auch mal eine Auszeit erlauben darf.

Eine kleine Erinnerungsverwaltung zur Leipziger Buchmesse: Am Messegelände habe ich vor allem im internationalen Bereich gestöbert (Bosnien war scheinbar mit keinem Stand präsent). Es gab zum Beispiel eine interessante europäische Reihe zum Thema "Geld". Ansonsten war ich in der Stadt unterwegs. Am Freitag hab ich der Lesung unabhängiger Verlage gelauscht, am Samstag war ich in der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei der "Teil der Bewegung"-Lesung. Diese war in vieler Hinsicht interessant. Mehrere Generationen vertreten, von Charlotte Warsen über Andreas Altmann bis hin zu Elke Erb. Es gab auch einige überzeugende internationale Stimmen, etwa Timothy Donnelly. Der Gegensatz zwischen sprachspielerischen und performativen Schreibkonzepten auf der einen und erzählerischen, inhaltsschweren auf der anderen Seite war an dem Abend stark. Charlotte Warsen, Friederike Scheffler und Julia Trompeter zelebrierten - auf komplett unterschiedliche Weisen - Sprachklang und Interaktion mit dem Publikum, während Sarah Rehm - derselben Generation angehörend - inhaltsschwere Gedichte las, in denen es um Themen wie Heimat, Krieg und - Bosnien (!) ging.

Ich habe Sarah ja als Autorin des (noch unveröffentlichten) Romans "Splitter in Gedanken", der einmal ausschnittsweise in der Edit veröffentlicht war und zu großen Teilen in Bosnien spielt, kennen gelernt. Bis heute kenne ich nicht das ganze Manuskript, aber etwas Besonderes ist das Werk auf jeden Fall - wegen der intensiven Beschäftigung mit einem Land durch eine Autorin, die keine biografische Verbindung zum Balkan hat und zum Zeitpunkt des Bosnienkrieges selbst noch Kind/Jugendliche war.

Ich selber hadere ja gerade mit den "großen Themen" - oder zumindest mit einer ungebrochen ernsten Auseinandersetzung damit. Worte wie "Heimat" stören mich (auch das Bild, dass im Ausland lebende Autoren und Autorinnen eine "Heimat in der Sprache" finden, finde ich fragwürdig, wer hat das eigentlich geprägt, Brecht? Oder ist das noch viel älter?). Auch das Wort "Vertreibung", das in einigen meiner Gedichte vorkommt (nicht im Kontext 45ff., sondern 92ff.), beginnt mich in seiner Schwere und Geschichte nachträglich zu stören, ist im jeweiligen Kontext aber nicht ersetzbar. Ich stimme dir auf jeden Fall zu, dass lesenswerte Gedichte meist Allgemeineres behandeln. Diesen Dingen können sie durch ungewöhnliche Perspektive und/oder Sprache etwas hinzufügen.

Noch eine böse Bemerkung zum Schluss: Es nervt irgendwie, wenn Lyriker/innen darauf rumhacken

- wieviel reflektierter und weniger Mainstream sie sind
- wieviel schlechter bezahlt und weniger beachtet sie sind



deine Sibylla

Donnerstag, 30. Januar 2014

Liebe Eva,

nun gab es doch noch einen spontanen Wintereinbruch, ganz nach meinem Geschmack. Neulich kam mir in den Sinn, dass es ziemlich kindisch von mir ist, Schnee zu mögen, da ja alle normalen Erwachsenen sich immer nur über die schlechten Verkehrsbedingungen beschweren, wenn es zu schneien beginnt.

Aber vielleicht hat es auch noch andere Gründe, zum Beispiel die Freude am Außergewöhnlichen, nicht Alltäglichen, ein klitzekleines bisschen Beängstigenden. Und da frage ich mich dann, warum es nicht jeder und jedem so geht mit dem Schnee. Ist es nicht genau dieses leicht entrückte, ästhetische Erlebnis, das man sich verspricht, wenn man zum Beispiel einen Urlaub bucht? Oder auch nur ins Kino geht?

Ach, ich merke, ich bin für die Logik gerade nicht besonders zu gebrauchen. Bin angeschlagen, gesundheitlich. Bronchitis mit Atemnot, spät gemerkt, dann hat das Antibiotikum nicht angeschlagen, und und und. Alles nicht so erfreulich.

Hatte wenigstens ein angenehmes Leseerlebnis "Liebes Leben" ("Dear Life") von Alice Munro. Erzählungen, die so unterhaltsam sind, dass man gar nicht merkt, dass man kaum etwas über die Protagonisten weiß - und sich deren seltsames Verhalten eigentlich nicht erklären kann. Dann wird in einem unerwarteten Rückblick manchmal einiges klarer - und das ist weder entzaubernd noch notwendig, eher so wie ein persönliches Geschenk, mit dem man gar nicht gerechnet hat.

Neues aus Bosnien (außer dass die Mostarer Müllabfuhr Ost mal wieder streikt): Wir fliegen nach fast eineinhalb Jahren Abstinenz wieder hin, Ende April. Gutes Gefühl. Wenn auch nur für zwei Wochen. Für den ersten Mai ist ein Ausflug nach Nevesinje geplant. Richtig ländlich-bäuerlich werden wir den Tag begehen, mit Lamm am Spieß und so. Armes Lämmchen!

Na, ein bisschen ist es ja noch hin. Erstmal kommt die Buchmesse und wer weiß was sonst noch. Du wirst es ja in diesem Jahr wahrscheinlich nicht schaffen, nach Leipzig zu kommen, oder?

Bis ganz bald,

Sibylla


Montag, 11. November 2013

Liebe Eva,

nach Feldkirch gefahren, Preis erhalten, aufgeregt gewesen, dankbar gewesen, gelesen und sehr gut gefrühstückt im ehemaligen Hotel Alpenrose (jetzt "Gutwinski"). Den ersten Preis bekamen Tabea Xenia Magyar und Tristan Marquardt für eine Gemeinschaftsarbeit, einen Zyklus von vier Gedichten. Als G13-Mitglieder meinen sie es wirklich wörtlich mit dem Lyrikkollektiv, es geht in letzter Konsequenz um gemeinsames Schreiben, mehrstimmige Gedichte. Wahrscheinlich war das bekannt - aber mir wurde es erst in Feldkirch deutlich. Interessanter, in vieler Hinsicht funktionierender Ansatz. Der Gewinnerzyklus sehr atmosphärisch und mal wieder ein Beweis, wie wichtig der Form-Gedanke, eine konsequente und harmonische äußere Gestaltung für Gedichte heute ist.

Hier kann man die Gewinnertexte anschauen:

http://www.saumarkt.at/lyrikpreis/feldkircher-lyrikpreis-2013-preistr%C3%A4gerinnen

Dass Lyriker/innen eng zusammen arbeiten, voneinander lernen und sich beeinflussen halte ich für den Normalzustand. Kann ein Gedicht fertig sein, bevor es von einer anderen Poetin wahrgenommen und kommentiert worden ist? Vielleicht, aber das ist eher die Ausnahme und möglicherweise ist es dann trotzdem Ergebnis von Gesprächen oder Leseerlebnissen mit Gedichten anderer Lyriker, die dem eigenen Schreiben vorausgegangen sind. In der Poesie ist es wohl wichtiger denn je, auf dem neuesten Stand über Trends und Entwicklungen zu sein, also im Austausch zu stehen mit Gleichgesinnten. Nichts wirkt so schnell antiquiert oder ungeschickt wie Lyrik ohne Bezug zu aktuellen Poetiken - und das hat noch nichts mit Talent zu tun.

Trotzdem halte ich es für wichtig, eine eigene Stimme zu entwickeln, rein aus praktischen Gründen. Auf Lesungen bekomme ich regelmäßig die Rückmeldung, dass meine Gedichte "berührt" hätten. Ich freue mich darüber, denn das heißt ja, dass ich etwas gegeben habe, Anregungen, Unterhaltung, Gefühl. Mehr als was man gelegentlich "Wortgeklingel" nennt. Es fiel in Feldkirch auch mehrmals der Begriff "Lebensbegleiter" für Gedichte, die manchen Lesern und Leserinnen langfristig etwas schenken. Solche Gedichte zu schreiben wäre erstrebenswert. Sind Gedichte aber weniger intellektuell, wenn sie unmittelbaren Zugang ermöglichen, auch nicht "Eingeweihten", eine persönliche Botschaft vermitteln, ein Gefühl?

Noch eine kleine Randbemerkung zur Stadt Mostar, der wir in unserem Blog ganz besonders verbunden sind: Am geschichtsträchtigen 9. November war der 20. Jahrestag der Zerstörung der alten Brücke. Dazu empfehle ich folgende Doku, die noch bis kommenden Samstag online ist:

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/gesichtereuropas/2272624/

Und um diesen "informativen" Brief komplett zu machen, noch der Link zu deinem neuen Poetenladen-Profil, das sehr schön und repräsentativ geworden ist:

http://www.poetenladen.de//eva-brunner.php

Ich denke dieser Tage viel an dich und freue mich, bald von dir zu hören!

Sibylla

Mittwoch, 17. Juli 2013

Liebe Eva,

es ist Sommer und das Fernweh ist groß. Alle anderen scheinen sich einen Urlaub leisten zu können. Vorm Einschlafen rufe ich mir mein sinnliches Mostar in Erinnerung, sonne mich ein bisschen darin. Ja, ich habe mir schöne Ersatzhandlungen ausgedacht und erlebe manche glückliche Sommerminute. Auf dem Weg zum Supermarkt setze ich mich kurz auf eine Bank und träume vor mich hin. Es gibt nichts Schöneres als diese Nachmittage, an denen alles etwas langsamer und träger ist von der Wärme, das Licht wird zum Abend hin gelber und eine schillernde Fliege setzt sich auf meine Sandale um sich ebenfalls dem Nichtstun hinzugeben. Kaum zu glauben, dass ich mich in einer Großstadt befinde, auf der Leipziger "Karli", die allerdings teilweise wegen Bauarbeiten brach liegt. Ich glaube, in solchen Momenten profitiere ich unbewusst - genau wie beim Mostar-Einschlafritual - von schönen Erlebnissen aus der Vergangenheit. Einer sommerlichen Nachmittagsstunde als Grundschülerin, an der die Hausaufgaben bereits erledigt waren und ich mich absolut frei und sorglos fühlte, einem Urlaub am Meer, in dem ich mich nach dem Schwimmen von der Sonne trocknen ließ oder einem Ausflug zum See, wo ich als Studentin auf der Wiese saß und mit den Zehen wackelte.

Und ich denke dann halbgare Dinge wie: Mit steigendem Alter wird alles übersichtlicher. Die Jahreszeiten, die Pläne, die man noch verwirklichen kann, die Personen, die etwas bedeuten. Und man ist froh, wenn man noch einmal überrascht wird und die Dinge ein bisschen außer Kontrolle geraten. Vielleicht ist das der Grund, warum manche Menschen mehrmals ein komplett neues Leben anfangen. Nicht so direkt aus Langeweile, aber weil man sich wundert, "ich habe doch noch gar nicht alles erledigt".

Als nächsten Gastbeitrag wählten wir - nach der Sommerpause im Juni - einen Text aus, der durchaus ein Reise- und Urlaubsgedicht ist. Gleichzeitig aber auch sehr melancholisch. Er zeigt, dass es nicht das Verreisen allein ist, das die Sehnsucht erfüllt. Manchmal kommt man einfach nirgendwo richtig an. Vielleicht ein bisschen als Appell an alle, die in diesem Jahr nicht wegfahren können und sich den Rest der Menschheit am Meer aalend vorstellen. (Nichts kann die Vorstellungskraft so sehr beflügeln - und irreführen - wie Neid.)

Dir wünsche ich noch schöne Tage auf deinen verschiedenen Fahrten innerhalb Deutschlands in diesem Monat - und freue mich schon, dich im September aus besonderem Anlass wiederzusehen!

deine Sibylla

Sonntag, 21. April 2013

Liebe Eva,

morgen kommt schon der April-Gastbeitrag, ein schönes Gedicht aus Marius Hulpes neuem Band, der vor wenigen Wochen erschienen ist. Hier noch schnell einige Grüße per Brief.

Ich war letztes Wochenende in Košice (Slowakei), die Stadt ist zusammen mit Marseille "Kulturhauptstadt Europas 2013". Wie schon in Pecs (Ungarn) 2010 waren die wesentlichen Bauvorhaben für das Kulturhauptstadtjahr nach dessen deutlichem Anbruch noch under construction. Die junge Künstlerin, die uns in der Stadt herumführte, meinte, sie sehe den Status der "Kulturhauptstadt 2013" und die finanziellen Zuwendungen durch den entsprechenden Fonds nicht als lediglich aufs Jahr 2013 zugeschnitten, sondern vielmehr als ein Grundkapital, das die lokale Kulturszene unterstützt und einen hoffentlich langfristigen Progress ermöglicht. Klar ist Nachhaltigkeit wesentlicher Wunsch und Ziel. Trotzdem soll man nicht zu euphemistisch sein und das Scheitern der Organisatoren - zumindest beim Timing - herunterspielen. Was aus der ganzen Sache wird, wenn die Mittel im nächsten Jahr wegfallen, weiß jetzt niemand. Aber die Reise hat sich trotzdem sehr gelohnt. Gerade BerlinerInnen, die günstig mit easyjet über Budapest anreisen können, empfehle ich einen Wochen(end)trip.

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie unsexy Literatur für die meisten Leute ist? Und dann auch noch Lyrik? Und im Vergleich mit den anderen Künsten? Sie besteht im wesentlichen aus Buchstaben, die man zusammensetzen muss, die man nicht anfassen kann, und die höchstens jene Art von Bildern ergeben, die man sich selber vorstellen muss. Literaturveranstaltungen sind oft schwerfällig, gerade noch Poetryslams (die ich persönlich nicht so mag) haben wirklich Eventcharakter, Lesungen wirken dröge und wenn es ins Internationale geht, geht sowieso alles "lost in translation". Schon komisch, dass ich das so kurz nach der Buchmesse mit ihren unendlich vielen attraktiven Veranstaltungen in Leipzig sage. Wir haben uns ja sehr amüsiert und interessiert. Aber gerade deshalb, weil man sich dort schon als Teil einer Masse fühlt: Nicht vergessen, wir sind auch nur Freaks. Genauso wie die verkleideten Computerspielteenies...

Liebe Grüße,
Sibylla

Dienstag, 29. Januar 2013

Liebe Eva,

"Familie ist als Herausforderung nicht zu unterschätzen", schön hast du das gesagt. Da fällt mir die Stelle in "Karte und Gebiet" ein, in der sich Houellebecq böse über das Thema auslässt: "Manche Menschen versuchten sich während der aktivsten Zeit ihres Lebens zu Mikrogruppierungen names Familien zusammenzuschließen, die die Reproduktion der Gattung zum Ziel hatten; aber diese Versuche schlugen meist aus Gründen fehl, die mit dem Wesen der Zeiten zutun hatten". Interessant ist diese Stelle allemal, v.a. in der erst drastisch, dann aber doch realistisch wirkenden Einschätzung, dass Familien meistens scheitern. Nicht ganz klar ist jedoch, was mit "Wesen der Zeiten" gemeint ist. Wahrscheinlich die gegenwärtige ultra-individualistische Tendenz, die dem Prinzip des engen familiären Zusammenschlusses konträr gegenüber steht. Eines Prinzips, das Kompromissbereitschaft, wenn nicht gar so etwas wie Selbstlosigkeit, "Demut", erfordert, jedenfalls die Unterordnung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse unter das Wohl eines "Ganzen".

Heute habe ich überlegt, ob ich jetzt eigentlich in Leipzig wohnhaft bin, oder vielleicht doch in Leipzig UND Mostar (das liest man doch oft: "Dedede wohnt in Köln und Rom"...)? Immerhin haben wir dort ein Haus, dessen Wände in meinen Lieblingsfarben gestrichen sind. Und wir haben auch vor, regelmäßig dorthin zurückzukehren. Ich vermisse Mostar, Bosnien im Allgemeinen, fühle mich an das Land gebunden. Aber dieses Gefühl der Leichtigkeit, das mich überkommt, wenn ich in Sarajevo aus dem Flugzeug steige, besteht zum Teil auch daraus, dass es eben nicht mein Heimatland ist, ein bisschen geheimnisvoll, ein Fluchtort, an dem ich noch "Mensch sein" kann. Und der Alltag dort war dann doch hart, wirklich hart. Und: Ich habe, besonders als ich in Mostar lebte, auch meine unschöne Geburtsregion manchmal vermisst. Die weiten Felder, Waldwege, Moos und Moder und Kornblumen und sich akkumulierende Windräder um Wolfsburg herum. Zu Hause bin ich dort aber lange nicht mehr. Was für ein komplizierter, emotionaler Knoten diese Zugehörigkeit zu bestimmten Orten doch ist!

Liebe Grüße,
Sibylla

Mittwoch, 21. November 2012

Liebe Eva,

es kommt mir so vor, als frage jeden Tag einer "Hast du Lust, Tatort zu gucken?" - ist aber nicht jeden Tag. Es ist schon wieder Sonntag. Eigentlich hat sich seit der Ankunft in Leipzig Ende Oktober ja schon viel getan. Zahlreiche Behörden habe ich von innen gesehen, zahlreiche nummerierte Zettel gezogen, die gröbsten Dinge zur Wiederaufnahme in die deutsche Gesellschaft angestoßen - und doch staut sich da so eine Ungeduld an, eine Unzufriedenheit oder Unfähigkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es scheint mir, jetzt ist bald Weihnachten (am Weihnachtsmarkt bauen sie jedenfalls schon wochenlang rum) und dann ist Silvester und am Neujahrstag wird sich bewahrheiten, was ich bereits ahne: 2012 kann ich eh nichts mehr reißen.

Einen guten Monat sind wir also hier, meine Bosnier und ich. Die Stimmung ist durchwachsen. "Warum tragen die Deutschen alle Jack Wolfskin-Jacken? Was hat es damit auf sich?" "Warum bekomme ich beim kollektiven Pizzaessen immer ein exakt gleich großes Stück zurück, wenn ich jemanden von mir probieren lasse? Und wo ist die Majonnaise?" Ich weiß es nicht und es gibt relevantere Fragen. Aber diese leichte Befremdung spüre ich auch, in beide Richtungen. In meinem letzten Brief hatte ich ja angekündigt, etwas über bosnisch-deutsche Fremdbilder zu schreiben. Leider überwiegt in meiner Wahrnehmung, wahrscheinlich auch ausgelöst durch den kleinen Kulturschock, momentan eher das Negative und Klischeehafte. Wenig Gemeinschafts- und Familiensinn vermutet man auf der einen Seite, überkommene Beziehungs- und Familienmodelle auf der anderen. Bosnier denken vielleicht: "Euer Wohlstand ist unbegrenzt, ihr habt es so leicht" und Deutsche: "Eure Armut ist selbstverschuldet, ihr habt keinen Organisationsgeist und einen Hang zur Kriminalität". Aber vielleicht überbewerte ich momentan auch reservierte Gesichter und Fragen wie "Was macht man denn da unten, in Bosnien und Herzegowina?"

Erst einmal muss ich die Umwälzungen in meinem bosnisch-deutschen Leben etwas besser verdauen, bevor ich überzeugende Worte und Schlussfolgerungen finde. Deshalb halte ich es heute kurz und verbleibe mit einem Fragezeichen.

Gute Nacht,
Sibylla

Donnerstag, 20. September 2012

Liebe Eva,

in deinem letzten Brief hast du dich noch einmal an deine allererste "Ella-Nachricht" an mich erinnert, was einen schönen Rahmen bildet, denn mit Beginn der Herbstsaison eröffnen wir ein neues Kapitel: "Liebe Ella" hat sich mit upgedatetem Aussehen und dem Label "Ausflüge" verjüngt und erweitert.

In Mostar ist es inzwischen herbstlich, ein Wetter, wie man es sich schöner nicht wünschen kann: Sonnenschein bei so genannten Wohlfühltemperaturen, dazu die melancholisch fallenden Blätter, diesigen Morgenstunden und goldgelben Farben. Auf meinen täglichen Spaziergängen schlägt mein Herz oft schneller, wenn ich die Schönheit der Stadt unverhofft wahrnehme. Und ich glaube, auch die Mostarer haben ihren Sinn dafür nicht verloren, so sehr sie über ihre Stadt schimpfen (wie sie heute ist, denn früher, vor dem Krieg, war fast alles besser - und das stimmt natürlich auch). So sieht man z.B. häufig alte "Mostarci" auf den Neretvabrücken stehen und stundenlang auf den Fluss herabschauen, wer Zeit hat, hält sich auf der Straße auf und genießt die Sonne und eine der vielen schönen Stadtansichten.

Da unterscheiden sich die Mostarer nicht viel von den Touristen. Was dann allerdings auch die einzige Gemeinsamkeit wäre. Die Touristen halten alles mit der Kamera fest, auch die Einschusslöcher, die sie aufregend finden, während die Mostarer sich für sie schämen. Die Touristen bewegen sich schneller und hektischer und man sieht, wie sie mit der Eindrucksfülle zu kämpfen haben. Sie schleppen viel mit sich herum, wohingegen ich bei den Einheimischen das Gefühl habe, dass es ein No-Go ist, sich mit etwas anderem als Einkäufen oder dem obligatorischen Damenhandtäschchen in der Fußgängerzone zu zeigen. Vielleicht hat es etwas damit zutun, dass man sich von den Roma deutlich abheben will, die überall zu sehen sind - Sammel- und Bettelware schleppend oder in alten Kinderwagen schiebend. Auch das gepflegte Aussehen der Menschen (rasierte und gegelte Männer, geschminkte und gefönte Frauen) hat vielleicht etwas mit Abgrenzung von den Roma zutun. Oder von den "Seljaci" - den bäuerlichen Landbewohnern, über die jeder Städter, jede Städterin, eine abfällige Bemerkung parat hat. Übrigens machen die Seljaci, die großteils tatsächlich noch sehr abgeschieden und traditionell leben, Bosnien und Herzegowina mehr als alles andere aus, denn es ist eine seit jeher sehr ländlich geprägte Gegend. Aber von ihnen hört man ja außer Vorurteilen nur wenig.

Die betont gepflegten Stadtbewohner also sind hier in Mostar mit den Touris aus dem "reichen, fortschrittlichen Westen" konfrontiert - was manchmal ein paradoxes Zusammentreffen ist. Denn vor allem die jungen Leute, die nach Mostar kommen, sehen oft arg verwahrlost aus. Wie ein Student eben mit Backpack und Urlaubsbart, barfuss, in Hippielaune, immer den Tabaksbeutel zur Hand. Aber das superteure Laptop eben auch. Fragt nach dem günstigsten Hostel oder schläft gar am Fluss. Und ist dabei doch unendlich viel reicher als die meisten Leute hier. Irgendwann steht er vielleicht mal in Anzug und Krawatte einer Firma vor oder wird Professor mit Traumeinkommen. Ich glaube, dass die Mostarer beim Anblick so Mancher ziemlich befremdet sind, denn sie wissen ja vom Wohlstand derer, die optisch eher in ihre "Roma-Schublade" passen. Befremdet im wahrsten Sinne des Wortes. Klar kennt man den Schlabberlook aus dem Fernsehen, hier gibt es ja ausreichend amerikanische, deutsche, französiche etc. TV-Kanäle. Trotzdem trägt der Unterschied im Styling viel dazu bei, dass das kulturelle Fremdverständnis auf beiden Seiten eher schlecht ist und das bosnische Bild vom Deutschen sowie das deutsche vom Bosnier stark klischeebehaftet sind.

Dazu im nächsten Brief mehr. Ich hoffe, es geht dir gut und freue mich, bald von dir zu hören.

Deine Sibylla . 

Sonntag, 17. Juni 2012

Liebe Eva,


in den letzten Wochen ist soviel passiert! Eine Hochzeit, ein Umzug, ein neuer Job... du warst hier – und auch wenn es diesmal nur ganz kurz war, war es wie immer sehr schön, wenn Berlin und Mostar plötzlich an einem Ort sind. Apropos Hochzeit: Zwar unterscheiden sich der Ablauf der Feier und seine Bedeutung nicht so stark von der deutschen Feierlichkeit, doch es ist zu vermerken, dass das Heiraten hier einfach wichtiger, ernster genommen wird. Es ist nicht etwas Schönes, das man sich mal gönnt, sondern etwas Elementares, das sich eigentlich jeder wünscht (und die Scheidungsrate wie erwähnt: in Bosnien und Herzegowina extrem niedrig). Spätestens seit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ weiß doch jeder, dass es ein Zeichen für die Wichtigkeit einer Sache in einem bestimmten Kulturraum ist, wenn es viele, differenzierte Bezeichnungen für sie gibt. (Auch wenn ich gehört habe, es soll nur ein Gerücht sein, dass es im Grönländischen so unendlich viele Begriffe für Schnee gibt.) So gibt es hier einen speziellen Begriff für Hochzeitsgäste (svatovi), einen Begriff dafür, dass eine Frau heiratet (udati se) und einen, dass ein Mann heiratet (ženiti se), Ehering heißt „burma“ während der Begriff für Ring ein ganz anderer ist (prsten von prst: Finger) usw. Manchmal sind es gerade die feinen Unterschiede in der Bedeutung, die man Dingen hier zumisst, die auf den ersten Blick ja ganz ähnlich funktionieren, die mich verwirren. Alles scheint so gleich, so klar, man kann sich verständigen, Heiraten ist wichtig, aber kein Muss, und doch gibt es z.B. kaum unverheiratete Paare mit Kind, viele ziehen erst nach der Hochzeit zusammen, es bleibt ein kleiner Teil der Bedeutung im Ungewissen und führt eine Verwirrung stiftende Schattenexistenz. Und wenn das Zusammenleben hier teils traditioneller gestaltet ist, dann frage ich mich, ob es nicht vielleicht auch so etwas wie eine Zeitreise war, diese Verpflanzung noch Mostar, nicht nur ein räumliches Abstandnehmen von Deutschland. Aber es ist doch auch viel zu einfach, zu denken, dass die Umstände hier mit denen in Deutschland vor einigen Jahrzehnten vergleichbar sind. Und es ist auch dieses typische arrogante "die Gesellschaft hier hinkt der modernen westlichen Gesellschaft hinterher". In Deutschland war es nie wie es heute hier ist und hier wird nie so sein, wie es gegenwärtig in Deutschland ist.

Jetzt ist es Sommer und fängt an, richtig heiß zu werden. Und wie alle Mostarerinnen und Mostarer denke ich nur Meer, Meer, Meer – wann fahren wir endlich ans Meer? Also ein bisschen Urlaub hätten wir uns jedenfalls verdient. Nur so ein Wochenende lang. Piniengeruch, Salzwasser, Tintenfisch mit Knoblauch – hmmm, hoffentlich ist es bald soweit!

Deine Sibylla

Dienstag, 21. Februar 2012

Liebe Eva,

seit drei Tagen regnet es in Mostars weißes Wunder, den Schnee, der die Stadt für Tage lahmgelegt hatte. Im Winter ohne Strom, Wasser und Heizung ist etwas, woran man sich nicht mehr gewöhnen will. Auch wenn es lustig war, das Staksen durch die weißen Massen, das Fotografieren und Facebooken der Autodächer, die gerade mal einige Millimeter aus dem Schnee guckten. Es muss nicht sein, schon gar nicht in einer Stadt, in der die Erinnerung an vier Kriegsjahre ohne Strom und Wasser noch so lebendig ist, dass auf einmal nur noch davon die Rede ist. Und wo wird auch TV und Internet so sehr geliebt wie hier? Ich verstehe es gut, dass diejenigen, die Jahre lang darauf verzichten mussten, nun ihr Recht auf Unterhaltung und Fernkommunikation mit Hingabe einlösen wollen. Und es gibt ja immer noch Defizite: Z.B. wollten wir gestern eine gemeinsame Amazonbestellung machen, nur um festzustellen, dass die sorgfältig ausgesuchten (englischen) Bücher alle nicht nach Bosnien lieferbar sind. Ich würde schwören, dass das zu einem früheren Zeitpunkt (mit deutschen Büchern?) schon einmal geklappt hat.

Einer weiteren Errungenschaft der Zivilisation blicken wir in diesem Frühjahr entgegen: Einem riesigen Einkaufzentrum, das schon zu einer Art Sehnsuchtsort für viele geworden ist. Auch für mich. Immer wieder sorgt es für Gesprächsstoff. Ein großes Kino soll es geben (endlich endlich!), Mc Donalds - und vielleicht auch diesen Seifenshop, diesen Laden, den es auch in Sarajevo gibt, wie heißt er nochmal? Jeder wartet auf etwas anderes, der eine auf westliches Fast Food der andere auf einen Delikatessenanbieter, ja, vielleicht gibt es ja sogar einen großen Buchladen? Dabei ist doch nichts sicher (außer dass es tatsächlich vier große Kinosäle geben wird, dass weiß ich aus verlässlicher Quelle - denn auch ich, wie jeder Zweite, kenne jemanden, der am Bau des Kolosses beteiligt ist). Vielleicht ereilt die Mall auch das Schicksal der vielen anderen fehlinvestierten Einkaufzentren in Mostar. Es bleibt halb leer und wird wieder nur das Gegenteil von dem, was man erhofft hat: Ein Symbol für die Entbehrungen in einem wirtschaftlich nicht funktionierenden Land. Denn es stimmt zwar, dass die Mostarer es lieben, Klamotten zu shoppen und in Cafes rumzuhängen, aber wo über 50% der jungen Menschen arbeitslos sind und Kleinunternehmern mit hohen Abgaben und null Unterstützung nur Steine in den Weg gelegt werden, sind bereits seit Neujahr 7000 kleinere Geschäfte pleite gegangen.

So siehts hier aus im Jahre 2012, dass Juli Zeh hierher gereist ist, ist bereits über 10 Jahre her. Ich habe ihr Buch, das du in deinem letzten Brief erwähnt hast, mit Genuss gelesen, auch wenn ein bisschen der Tiefgang fehlt. Zumindest macht sie in "Die Stille ist ein Geräusch" nicht deutlich finde ich, dass sie sich intensiv mit dem Land beschäftigt hat, es ist alles ein bisschen naiv geschildert, pseudo-naiv würde ich meinen, einer Erzähltechnik geschuldet. Kurze Zeit später gab es im Land einen kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwung, der aber schnell wieder "versandet" ist. Ach ja: Und die Neretva "chirurgengrün" zu nennen ist doch etwas untertrieben - da muss einem doch etwas Schöneres zu einfallen als die Atmosphäre eines OP-Saals. Vielleicht die grün-blaue Kachelung eines Hamam? Darüber denke ich bis zum nächsten Brief nochmal nach.

Deine Sibylla

Montag, 7. November 2011

Liebe Eva,

heute ist der erste richtig regnerische Tag in Mostar, der voraussichtlich eine lange Reihe von Regentagen einleiten wird, an denen es zwar nicht kalt, dafür aber draußen richtig ungemütlich sein wird. In unserer neuen Wohnung haben wir einen Ofen und wenn es auch noch den ganzen Tag lang ein bisschen blitzt und dauerdonnergrummelt ist es hier drinnen schön gemütlich. Trotzdem bin ich froh, dass die Zeit des Frierens und Sonnenentzugs jetzt erst so langsam anfängt, denn das Schlimmste am deutschen Winter ist ja, dass man Anfang Februar schon vier triste Monate hinter sich hat und immer noch nicht wirklich ein Ende in Sicht ist. Die saisonbedingte Verstimmung hält sich dadurch mit etwas Glück in Grenzen. Ich freue mich schon sehr auf deinen Besuch in zwei Wochen und finde es auch gut, dass du Mostar diesmal zu einer ganz anderen Jahreszeit, von einer ganz anderen Seite kennenlernen wirst. Wenig Touristen, vielleicht mit Dauergewittern und Wolken, die unbewegt in den Bergen hängen und die Welt ganz klein werden lassen.
Meine Lektüren in der letzten Zeit sind spärlich, was nicht nur daran liegt, dass ich hier mit Büchern, v.a. natürlich mit Büchern auf Deutsch, schlecht versorgt bin. Wenn ich mal eine Minute Ruhe habe, surfe ich im Internet oder gucke einen Film, weniger aus einem Interesse heraus als aus einer stupiden Lust auf Unterhaltung ohne Anstrengung (von der Beliebtheit gut gemachter Fernsehserien habe ich in letzter Zeit schon gehörte, aber mich bis jetzt selber noch keiner gewidmet. Kannst du mir eine zum Einstieg besonders empfehlen?). Schöner ist jedoch immer, ein Buch zu lesen. Das Gefühl, sich sinnvoll beschäftigt zu haben und auf neue Gedanken gekommen zu sein bleibt. Im Prosaheft der Edit vom Frühjahr habe ich noch einmal herumgeblättert und den Essay von Norbert Hummelt ein zweites Mal gelesen, ihn wieder gemocht in seinem Understatement. Und die These, dass Lyrik schreiben besser für das seelische Gleichgewicht ist und die Arbeit am Roman zu Depression und Selbstmord führen kann, ist doch recht ungewöhnlich. Der Lyriker Hummelt wendet so jedenfalls geschickt den Ratschlag zum Roman ab, denn eine solche Verantwortung möchte natürlich niemand auf sich laden.

Noch immer Regen und über dem Fluss fliegen Möwen hin und her.

Bis bald,
Sibylla

Donnerstag, 18. August 2011

Liebe Eva,

gestern und heute zwei Hinweise darauf, dass ich langsam zur wahrhaftigen Mostarerin werde. 1. ich erschrecke nicht im Geringsten, wenn unsere Katze eine riesige Heuschrecke anschleppt (mindestens von der Größe eines Teelöffels), sondern nehme sie ihr einfach weg und entsorge sie ohne mit der Wimper zu zucken, 2. ich fange an, Todesanzeigen zu lesen. Das Interesse daran, wer wann woran gestorben ist, ist hier sehr groß und kommt niemandem morbide vor. Sondern eben normal. Man checkt morgens als erstes seine Facebookseite und eben mal schnell im Netz, wer so Neues gestorben ist. Todesanzeigen werden stets Din A 4 gedruckt und in der ganzen Stadt verteilt - und handelt es sich um einen interessanten Tod, etwa einen Jungen, der in der Neretva ertrunken ist oder einen Selbstmord - muss man manchmal anstehen, um einen Blick auf den Aushang ergattern zu können. Darauf ist ein Foto zu sehen und die Lebensdaten; auch die Beerdingungszeiten stehen meistens darauf und die Abfahrtszeit des Busses zum Friedhof, den die Familie für die Trauergäste bestellt hat. Kommen kann jeder, der sich berufen fühlt, eine große Trauergemeinde ehrt traditionell die Toten und deren Familie. Auch bei Trauerblättern gibt es natürlich die allgegenwärtige "ethnische Differenzierung", Christen bekommen ein Kreuz und einen schwarzen Trauerrand, Muslime einen Mond und einen grünen Trauerrand. Interessanterweise gibt es in diesem Genre auch noch Atheisten, bzw. Kommunisten, die haben dann einen Stern und eine rote Umrandung (aber auch nur hier, im Tod, darf manchmal vom christlich-muslimischen Gegensatz abgesehen werden, ansonsten wird er ja ausnahmslos angewendet zur Verortung einer Person, egal ob diese religiös ist oder kommunistisch oder esoterisch oder was auch immer).

Etwas anderes: Neulich bin ich auf die österreichische Literatur- und Kunstzeitschrift "Lichtungen" gestoßen, in deren neuester Ausgabe auch Vesna Lubina, unser Gastbeitrag vom Juni, vertreten ist. Der Blick nach Österreich lohnt sich immer, gerade wenn man ein Interesse am Balkan hat, der dort durch seine einflussreiche Wiener Diaspora sehr präsent ist. Ein kontinuierlicher Schwerpunkt der Lichtungen ist dann auch südosteuropäische Literatur, dieses Jahr besonders der Kosovo, dessen kleine zeitgenössische Szene ich, seit dem Polip-Lyrikfestival in Pristina im letzten Herbst, interessant finde. Kürzlich habe ich zusammen mit Lucia Zimmermann, die ja auch das Festival initiiert und organisiert hatte, einen bosnisch-kosovarischen Autorenaustausch mit den jungen Autor/innen Lamija Begagić aus Sarajevo und Imer Mushkolaj aus Pristina durchgeführt. Die beiden haben einen Essay über ihre Begegnung geschrieben, der ins Deutsche übersetzt wurde und zusammen mit weiteren Essays publiziert werden wird. Mit Lamijas "bosnischem" Text trainiere ich gerade ein bisschen meine Sprachkenntnisse - auf die Gesamtpublikation auf Deutsch bin ich derweil schon sehr gespannt. Ich halte dich auf dem Laufenden, vielleicht muss ich dir einmal die ganzen kleinen Publikationen, an denen ich hier beteiligt bin (z.B. auch den Polip-Band und die Publikation zu zeitgenössischer Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina) und die man in Deutschland nicht so einfach bekommt, gesammelt schicken. Ich mache es, wenn ich den Essay-Band auch habe.

Liebe Grüße aus dem heißen Mostar,
Sibylla

Samstag, 30. April 2011

Liebe Eva,

der Begriff Bionadebiedermeier scheint sich wachsender Beliebtheit zu erfreuen, ich hatte ihn, trotz meiner Distanz zum deutschen Sprachraum, auch schon mehrmals gehört und nun kürzlich in der BELLA triste gelesen. Sein Reiz besteht in der Alliteration und seinem oxymoronischen Charakter, da Bio-Produkte bis vor einigen Jahren noch für eine alternative und fortschrittliche Lebensweise standen, das Gegenteil also von konservativem Biedermeiertum. In der BELLA triste 29 behauptet Paul Bodrowski, dass "die Gegenwartsliteratur primär von Klavierunterrichtnehmern und Bionadebiedermeier durchdrungen ist", also von Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Mittelschicht. Surprise! Sind doch mindestens bürgerliche Existenzbedingungen Voraussetzung, um sich mit Unterstützung, Zeit und Muße der Literatur widmen zu können. Die verbreitete, mehr oder weniger gefakte Autorenbiografie (welche Biografie ist nicht gefakt?) "hat sich als Mitglied einer Jugendgang, Gärtner, Kellner, Postbote... durchgeschlagen, bevor er sich als freier Schriftsteller etablierte", finde ich Kitsch, bürgerlichen. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen Kitsch.

In Bodrowskys Essay geht es in erster Linie darum, dass in gegenwärtiger deutschsprachiger Prosa der übermächtige Gegner eines repressiven Herrschaftssystems als dramatisches Element fehle. Bodrowsky ist der Meinung, dass das eben nicht an der freiheitlichen deutschen Gesellschaft liege, sondern daran, dass sich Autoren wie Figuren der Texte im Mittelschichtmilieu bewegen, in dem staatliche Repression und Existenznot wenig zu spüren sind. Da ist etwas dran... und trotzdem, nach fast zwei Jahren Mostar muss ich sagen, Deutschland geht es gut und es kümmert sich doch um alle ein bisschen. Es ist ein Unterschied, ob es um mehr oder weniger geht oder - wie hier - um nichts oder weniger als nichts. Es ist ein Unterschied, ob man sich als Mitglied einer breiten bürgerlichen Mittelschicht Gedanken über die Grenzen seines eigenen geistigen Horizonts macht, oder ob man in einem Land aufgewachsen ist, in dem gar keine einflussreiche Mittelschicht existiert. Von Vorteil für die Literatur ist das jedenfalls nicht.

Diese Überlegungen als Wort zum morgigen Tag der Arbeit. Der ist hier so beliebt, dass man, da er auf einen Sonntag fällt, gleich Montag und Dienstag mit als Feiertage ausgerufen hat. Wenigstens etwas fürs Volk.

Liebe Grüße,
Sibylla

Mittwoch, 2. März 2011

Liebe Eva,

heute Nacht hat es in den Bergen wieder geschneit. Zwar sind in Mostar keine Minusgrade, aber es ist doch eisig, weil ein Wind durchs Tal fegt, den man hier "Babe=Omas" Wind nennt, angeblich nach einer Oma, die beim Schafehüten eingefroren ist. Meine Hoffnung auf einen baldigen Frühling bleibt trotzdem bestehen. Anders als in Berlin, wo ich oft - vielleicht beeinflusst von Szenen aus "Berlin Alexanderplatz" oder so - dachte, dass der Winter besser zur Stadt passt und ihren besonderen Charakter unterstreicht, hält Mostar regelrecht den Atem an, wenn es kalt ist. Die Leute wollen auf der Straße sein, gut aussehen, lange aufbleiben, sich über die Hitze beschweren, ans Meer fahren, Winter wird am besten ignoriert. Im Sommer wird die ungemütliche Kälte dann komplett vergessen und es heißt: Ach, wir haben hier ja nur einen ganz kurzen Winter, ne besondere Heizung oder Isolierung braucht man in Mostar doch nicht...

Ich finde auch, dass regelmäßige Treffen und Austausch mit anderen extrem gut fürs Schreiben sind. Auch weil es motiviert, Neues auszuprobieren, Texte zu überarbeiten, viel zu produzieren. Ich kenne diese Phasen, in denen der Wert der eigenen Texte als sehr gering erscheint, empfinde sie als sehr belastend. Es hemmt dann auch beim Weiterschreiben und allein das ist ätzend, da es einfach fehlt und ein so wichtiger, freudvoller Teil des Alltags zu verblassen scheint. Was deine Texte angeht, mag ich gerade die einfache, ungekünstelte Sprache sehr an ihnen und meistens führt das nicht zu Banalität, sondern zu Klarheit. Aber dass du darüber grübelst und zweifelst ist sicher nicht schlecht: Gerade weil es etwas Wesentliches an deinen Texten ist, ist es wichtig, dass du darüber reflektierst und den Grenzraum "Einfachheit - Konkretheit - Verständlichkeit - Banalität" immer wieder ausmisst. Ich habe ja stattdessen meine regelmäßigen Auseinandersetzungen mit der Kompliziertheit und Unverständlichkeit, die sich meiner Worte immer wieder bemächtigt.

Bei Christophe Fricker lese ich teils eine ähnliche Konkretheit wie bei deinen Gedichten, deshalb habe ich mir schon gedacht, dass dir seine Sachen gefallen. Mich freut besonders, dass das Gedicht von ihm bei uns erstveröffentlicht ist. Unser exklusives Blog...

Viele Grüße und sende bald mal per Mail neue Texte,

Sibylla

Montag, 7. Februar 2011

Liebe Eva,

gestern habe ich ein melancholisch-lustiges Gedicht von mir gefunden, das auch zu unserem Blog-Thema passt. Es ist schon einige Jahre alt, leider undatiert.

Fahren

wir ziehen weiter wir lassen zurück
ein Haar einen kleinen Halbmond Fingernagel
immer ein Stückchen von uns
wir fahren und verlieren uns
an Orte Personen Träume die nicht
transportabel sind so sind wir zerstreut
wie Salz auf einem hart gekochten Ei


Warum ausgerechnet wie Salz auf einem hart gekochten Ei? War das nur ein kleiner Witz oder habe ich mir etwas dabei gedacht? Und ist das Ei überhaupt schon gepellt? Diese Frage wurde mir ernsthaft gestellt, aber ich denke doch! Wer streut Salz auf ein ungepelltes Ei? Vielleicht deswegen das Bild, weil Salzkörner auf gepellten Eiern immer so ein seltsames glasiges Aussehen annehmen, so dass jedes einzelne hervorgehoben wird? Vielleicht war es auch eine assoziative Verbindung auf der lexikalischen Ebene von "zerstreut" zu "Salzstreuer"...

Ich möchte einfach mal denken, dass es deswegen um Salzkörner und hart gekochte Eier geht, da unsere Zerstreutheit an unterschiedlichste Orte und Menschen doch letztendlich dem Ganzen die Würze gibt!

Aus Vorzeigezwecken habe ich übrigens auch ins Englische übersetzt, wie findest du die Version?

Going (Travelling?)

we go further we leave behind
a hair a little half-moon fingernail
always a bit of us
we go and loose ourselves
to places persons dreams which are not
portable so we are scattered
like salt on a hard-boiled egg

Bis bald,
deine Sibylla

Dienstag, 28. Dezember 2010

Liebe Eva,

zwischen den Jahren. Ich mag diese Zeit, sie entspricht meinem melancholischen Wesen. Es stört nur etwas, dass mir gar keine guten Vorsätze für 2011 einfallen. Bin ich etwa zufrieden mit mir? Nein soweit ist es wohl noch nicht gekommen!

Ich freue mich schon so sehr darauf, Ende Januar nach Berlin zu reisen. Nach so langer Zeit. Ich träume von der Stadt, wie sie mich verschluckt und ich durch ihre Innereien wandere. Es war eine gute Entscheidung, Weihnachten in Mostar zu verbringen und erst später einen Heimatbesuch zu starten. So gibt es schon etwas, worauf ich mich im neuen Jahr freuen kann - und von den ganzen negativen Seiten des Fests habe ich kaum etwas mitgekriegt, keine schneebehinderte Anreise, kein Familienkoller, kein übertriebener Geschenkeaufwand.

Du hast schon recht, dass Weihnachten hier ziemlich seltsam ist, die muslimische Seite der Stadt läuft einfach normal weiter (sehr befremdlich!) und auch auf der katholischen Seite ist der Weihnachtstrubel in keinster Weise mit dem zu vergleichen, was man aus Deutschland kennt. Gerade daher habe ich aber meine Prägung durch/Gewöhnung an dieses Fest gemerkt und es für mich allein zelebriert. U.a. mit einer Menge an Weihnachtsfilmen und Weihnachtsliedern, meistens aus dem anglo-amerikanischen Raum - ich hatte die amerikanischsten Weihnachten meines Lebens in Mostar und zumindest mit den Liedern fällt es mir nun regelrecht schwer, wieder aufzuhören. "Its beginning to look a lot like christ-mas!..."

Ich wünsche dir und allen unseren Leserinnen und Lesern eine schöne Silvesterfeier und einen guten Rutsch. Auf ein baldiges Wiedersehen im Jahr 2011!

Sibylla

Dienstag, 23. November 2010

Liebe Eva

„Axolotl Roadkill“ sollte ich bald lesen… auch weil es von zeitgenössischem Theater beeinflusst ist, denn das ist ja momentan mein berufliches Schwerpunktgebiet. Seit über einem Jahr arbeite ich jetzt für das „Mostarski teatar mladih“ – und ich muss sagen, dass die Welt der Bühne sich für mich nur langsam und partiell öffnet. Das Ergebnis, die Aufführung, am liebsten in einem kleineren alternativen Rahmen, konnte mich schon immer sehr berühren, doch Theater ist ja noch viel mehr. Meine scharfsinnigen bisherigen Konklusionen: Wer Theater macht oder als Schauspieler arbeitet, begibt sich in ein ungewöhnliches soziales Gefüge. Er oder sie arbeitet in Bezug auf Gesellschaft, es gibt keine andere der Literatur nahestehende Kunst, die so sehr auf Interaktion und Kommunikation baut. Und Theaterleute wirken nicht nur stets darauf hin, ihre Arbeit öffentlich zu präsentieren, sie kleben auch intern zusammen, sind stark aufeinander bezogen, im Guten wie im Schlechten. Theater erscheint mir manchmal als Gegenteil von Lyrik, Lyrik im Vergleich wie ein Rückzugsgebiet aus dem Geflecht menschlicher Beziehungen. Ich rede jetzt nicht davon, dass Lyrik inhaltlich abgehoben sein muss, sondern von den möglichen Praktiken des Gedichte-Schreibens und -Vortragens. Ich weiß, es muss nicht so sein, aber nicht jede Lyrikerin ist Patti Smith und das ist auch OK. Für mich persönlich wird Lyrik immer Ausgangspunkt bleiben, auch wenn es gut ist, weiter zu gehen.

Mädchen wie Helene Hegemann lösen übrigens Neidgefühle in mir aus, leider. Klar haben die auch ihr hartes Brot zu kauen, aber es ist doch ungerecht, dass da jemand einfach so in ein anregendes, gesellschaftlich relevantes Milieu hineinwächst; dass da ein jugendliches Fragen und Nachdenken unmittelbar auf interessante Antworten, auf adäquate Gesprächspartner stößt. Oder was meinst du?

Über Existenzbedingungen als Autor/in habe ich in Prischtina mit niemandem geredet… aber natürlich klingen gewisse Sorgen oder Probleme immer wieder an. Gerade so nach dem Studium, mit Mitte, Ende 20 ist kaum jemand sorgenfrei. Wir sind jetzt erstmal fein raus, aber bei mir ist definitiv schon die Phase eingetreten, in der ich mich um einen guten Anschluss sorge, auch wenn mein Stipendium noch bis nächsten Sommer geht. Schöner wäre es, nicht schon so weit denken zu müssen und einfach die Gegenwart bestmöglichst zu gestalten.

Sogut es geht im Dauerregen, der vor einigen Tagen eingesetzt hat. Es ist sogar ein Dauergewitter. Und das ist hier völlig normal. In Deutschland habe ich so etwas noch nie erlebt. Es gewittert in der Nacht und braut sich direkt über der Stadt zusammen, dann entfernt es sich etwas, donnert von Ferne, ab und zu ein Blitz, so geht das den ganzen Tag. In der Nacht wieder Unwetter usw. Ich ziehe jetzt erstmal um. Zum dritten Mal seit ich in Mostar bin. Ist übrigens angenehm ohne Möbel und mit leichtem Gepäck. Und ich werde direkt an der Neretva wohnen, was so ungefähr das Schönste ist, was man sich vorstellen kann… Du musst wissen: „Mädchen wie ich“ lösen hier schnell Neidgefühle aus – zu Recht. Die Wohnung, die weniger als halb soviel kostet wie alles Vergleichbare in Berlin, ist für die wenigsten Leute hier erschwinglich. Mit dem paycheck aus dem Westen ist das Leben ein Spielplatz. Wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Wenn auch nicht immer.

Gewittrige Grüße

Sibylla

Montag, 18. Oktober 2010

Liebe Eva,

am Sonntag bin ich von dem Poesiefestival "Polip" in Priština, Kosovo, zurück gekommen und bin noch ganz erfüllt von den vielen neuen Eindrücken, der guten Atmosphäre auf den Veranstaltungen, der meist sympathischen Chaotik der Stadt, dem Kennenlernen der anderen Dichter/innen und ihrer Texte. Schön war vor allem die abwechslungsreiche Gestaltung der Lesungen, es wurden u.a. Gedichte auf Albanisch, Kroatisch, Deutsch und Serbisch gelesen, außerdem gab es Livemusik, Hörspiele und Videoprojektionen. So war es stets spannend und unterhaltsam, auch wenn man nicht alle Sprachen verstanden hat und sich streckenweise mit dem reinen Sprach-Klang zufrieden geben musste. Sehr beeindruckt hat mich der aus Albanien stammende Dichter Ilir Ferra, der in Österreich lebt und auch auf Deutsch schreibt. Ein noch weit entferntes Ziel für mich, in der hiesigen Sprache schreiben zu können... Ich selber habe an erster Stelle Gedichte zu besonderen Orten in Bosnien und Herzegowina gelesen.

In deinem letzten Brief stimmst du mir zwar zu, dass Versehrtheit ein wichtiger Begriff in der Literatur ist und dass er die Ausstrahlung von Mostar gut beschreibt, stehst ihm aber auch skeptisch gegenüber. Wer möchte schon versehrt sein? Und welche Literatur mit dem Attribut "therapeuthisch" versehen? Ich verstehe was du meinst. Allerdings denke ich bei Versehrtheit, auch bei der von Mostar, gar nicht so unbedingt und automatisch an Krieg und Schmerz. Es stimmt, es geht hier auch 15 Jahre danach ständig um den Krieg und wie können die Narben wirklich heilen, solange die Stadt geteilt ist? Trotzdem gibt es für mich auch eine eher symbolische Ebene, auf der ich mich von den realen Geschehnissen, die schrecklich waren, distanzieren kann. Die Einheimischen mögen es verständlicherweise nicht, dass die Touristen so gerne die skurrilen Ruinen mitten in der Stadt, Zeichen der Versehrtheit, fotografieren. Aber für die Touristen und auch für mich, irgendwo im Dazwischen verortet, sind diese Gebäude erstmal nur interessant, nie gesehen, unerhört, sogar schön mit Rostflecken, Glasscherben und wuchernden Pflanzen. Bei aller Betroffenheit ist finde ich auch diese Perspektive verständlich.

Das ist so ein bisschen das Gegenteil von therapeutisch, entspricht so einer gewissen menschlichen Lust an der Traurigkeit, wie sie übrigens besonders gekonnt in Sevdah-Liedern, den typisch bosnischen, stets von unerfüllter Liebe handelnden Volksliedern gepflegt wird. Über diese Liedtradition gibt es einen Film, der unter anderem in Mostar spielt, hier ist der Link zu einem Teaser: http://www.youtube.com/watch?v=u3QS6A6_Xi0
Der Film heißt einfach "Sevdah", ist von Marina Andree und ist sehr empfehlenswert. Wer sich für BiH interessiert, sollte ihn unbedingt schauen.

Soviel für heute. Liebe Grüße!

Sibylla

Montag, 13. September 2010

Liebe Eva,

die rauhe, etwas ungehobelte Atmosphäre Berlins fällt mir auch immer als erstes auf, wenn ich die Stadt nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersehe. In Straßenbild und Umgangston. Allerdings glaube ich nicht, dass es - im Verhältnis zur Einwohnerzahl - in Berlin mehr Verrückte gibt als in Mostar. Hier schlummert die Verrücktheit vielleicht etwas besser verborgen unter der Oberfläche. Beide Städte sind ganz gute Schulen im Umgang mit menschlicher Unberechenbarkeit.

Nachdem du in deinem Brief einige Parallelen zwischen Berlin und Mostar gesehen hast, fallen mir immer mehr davon auf. Das Nebeneinander von wild und rausgeputzt, schön und hässlich, das du erwähnst, ist eine davon. Auf den Fotos, die du ausgewählt hast, kann man das erahnen. Auch wenn man auf dem ersten Bild nicht sieht, wieviele Ruinen noch in der abgelichteten Straße, der Tito-Straße, stehen und wie nah diese an der perfekt wiederhergestellten Altstadt liegt, mit der alten Brücke in der Mitte, von der das zweite Foto aufgenommen ist. Auf dem dritten Bild die orange-rot-gestreiften Ruinen des geschichtsträchtigen Hotel Neretva. Daneben ein frisch wieder hergestelltes und frisiertes Gebäude, einst für Tito gebaut, falls der mal zu Besuch kommt, heute ein Einkaufszentrum mit Café und Club im Erdgeschoss.

Versehrtheit habe ich als einen möglichen Ausgangspunkt für Schreibprozesse in meinem letzten Brief erwähnt. Versehrtheit ist wesentlicher Aspekt von Mostars Ausstrahlung. Sie irritiert und lässt mich inne halten und nach Worten suchen. Wahrnehmungsgewohnheiten werden unterlaufen und ich denke das ist eine wesentliche poetische Qualität der Stadt. Zudem ist Versehrtheit, so materiell sie sich in Mostar zeigt, etwas sehr Allgemeines oder leicht auch im emotionalen, individuellen Sinne Verallgemeinerbares, etwas, was in der Literatur prinzipiell eine große Rolle spielt.

Ja, ich kenne Tanja Stupar-Trifunović, ich habe sie für eine Lesung zum Thema "Erinnerungen" im Juni zusammen mit Jan Wagner nach Mostar eingeladen. Sie reiste mit ihrem Bruder aus Banja Luka an, wir haben zu dritt Kaffee getrunken und uns dabei auf "Serbisch-Bosnisch" unterhalten, gemäß meiner Sprachkenntnisse war das kein tiefgründiges Gespräch, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Tanjas Gedichte schätze ich sehr, sie kombinieren Trauriges und Lustiges auf einmalige Weise und sind manchmal ein bisschen provokativ, niemals langweilig. Man merkt ihnen an, dass Tanja auch als Journalistin aktiv ist, mit einem scharfen Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen. Wenn sie von ihren Erfahrungen mit dem Krieg in den 90ern schreibt, dann niemals mit einer Betroffenheitsgestik, eher trotzig und auf den Punkt gebracht. Zum Beispiel in ihrem Gedicht "Das Haus": "Ich ging um das Haus zu sehen / Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin / Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind / das sein Haus verlor / mir war überhaupt nicht traurig zumute"... Von Faruk Šehić habe ich Kurzgeschichten gelesen, auch er ist empfehlenswert, man kann auf den Seiten von "traduki" etwas über und von ihm lesen: http://www.traduki.eu/

Gibt es Herbstmüdigkeit? Ich glaube schon. Muss ins Bett. Gute Nacht und bis bald!

Sibylla

Mittwoch, 18. August 2010

Liebe Eva,

jetzt hast du Mostar kennen gelernt und einen Eindruck davon bekommen, was mich jeden Tag umgibt. Wir haben aber noch nicht darüber geredet, was die Stadt und ihre Umgebung für poetische Qualitäten hat - und das obwohl wir von meinem Balkon eine Sternschnuppe knallrot und waagerecht, sekundenlang gesehen und brutzeln gehört haben (ja lieber Leser, Sternschnuppen brutzeln manchmal, auch wenn das schwer zu glauben ist... man hört sie verglühen...wir sind Ohrenzeuginnen). Vielleicht können wir die Diskussion über Mostar und Literatur/Schreiben an Hand von ein paar Fotos noch nachholen. Stichworte könnten sein: "Kargheit", "lädiert", "erhaben". Zum Beispiel.

Du zitierst Ben Lerner "Hupen Sie, wenn Sie wünschten, alle schwierigen Gedichte wären tief". Das ist gut. Ich würde mir die von dir empfohlenen Gedichte gerne mal genauer angucken, ich bekomme leider zur Zeit weder Edit noch Bella. Sicher ist, dass Kompliziertheit in Gedichten oftmals eher dem Überdecken fehlender Tiefe dient. So erfolgreich, dass es vielleicht noch nichtmal dem Verfasser oder der Verfasserin auffällt. Von Steffen Popp, der Lerner übersetzt hat, habe ich schon einige eigene Gedichte gelesen, aus seinem ersten Gedichtband "Wie Alpen". Sie haben mir gut gefallen, sehr plastisch, übervoll mit Bildern, Vergleichen, man könnte das kritisieren, aber ich mag es. Zumal die Gedichte, die ich kenne, auch immer mal wieder witzig sind.
Soviel für heute, bis bald,

deine Sibylla

PS: Aufzählungen, ich liebe Aufzählungen!