Montag, 22. April 2013

Küche

der Tisch war gedeckt, die graublaue Fahne
des Morgens hing noch vorm Fenster, da saß
meine Großmutter - Brille, Zeitung - und schmierte
Leberwurststullen mit der Zeit um die Wette.
vollwertiges Müsli lag bequem und hübsch in seinem
Porzellanbecken, drinnen schwammen ein paar Tränen,
glänzten auf der Oberfläche der Milch,
auf weißer, vor Spannung zitternder Haut.
eine Welle aus Schokoflakes durchfuhr die Schale,
schwarze Flächen tauchten auf und versanken.
das Radio lief seit einem Jahrhundert,
rauschte Jahrzehnt für Jahrzehnt durch den Morgen,
eine Küche vollgepresst mit Weltmusik,
und draußen vermehrten sich die Busse,
vollgepresst mit Kindern tausender Eltern,
deren Kombis ein paar Kilometer südlich
in einen Baum rasten, jetzt, in einer scharfen
Biegung, und die Nachricht kam erst am Abend.

Gedicht von Marius Hulpe

Marius Hulpe, *1982 in Soest, hat Kulturwissenschaften und Kreatives Schreiben in Berlin, Zürich und Hildesheim studiert. Er lebt zur Zeit als Autor, Lektor und Dozent in Krakau. In vielen seiner Gedichte setzt er sich auf intensive und originelle Weise mit Orten auseinander, unter anderem mit Schauplätzen seiner westfälischen Heimat, wie in der Lyrikanthologie "Westfalen, sonst nichts?" (parasitenpresse, Dezember 2012). Marius Hulpe erhielt 2008 für seinen ersten Gedichtband "wiederbelebung der lämmer" den Literaturförderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und das LCB-Stipendium des Berliner Senats. Im März 2013 gerade frisch erschienen ist "Einmal werden wir", sein zweiter Gedichtband in der Lyrikedition 2000, dem das hier vorgestellte "Küche" entstammt, siehe dazu:
http://www.allitera.de/Hulpe%2C+Marius%3AEinmal+werden+wir_Lyrikedition+2000_978-3-86906-508-3_t.html

Sonntag, 21. April 2013

Liebe Eva,

morgen kommt schon der April-Gastbeitrag, ein schönes Gedicht aus Marius Hulpes neuem Band, der vor wenigen Wochen erschienen ist. Hier noch schnell einige Grüße per Brief.

Ich war letztes Wochenende in Košice (Slowakei), die Stadt ist zusammen mit Marseille "Kulturhauptstadt Europas 2013". Wie schon in Pecs (Ungarn) 2010 waren die wesentlichen Bauvorhaben für das Kulturhauptstadtjahr nach dessen deutlichem Anbruch noch under construction. Die junge Künstlerin, die uns in der Stadt herumführte, meinte, sie sehe den Status der "Kulturhauptstadt 2013" und die finanziellen Zuwendungen durch den entsprechenden Fonds nicht als lediglich aufs Jahr 2013 zugeschnitten, sondern vielmehr als ein Grundkapital, das die lokale Kulturszene unterstützt und einen hoffentlich langfristigen Progress ermöglicht. Klar ist Nachhaltigkeit wesentlicher Wunsch und Ziel. Trotzdem soll man nicht zu euphemistisch sein und das Scheitern der Organisatoren - zumindest beim Timing - herunterspielen. Was aus der ganzen Sache wird, wenn die Mittel im nächsten Jahr wegfallen, weiß jetzt niemand. Aber die Reise hat sich trotzdem sehr gelohnt. Gerade BerlinerInnen, die günstig mit easyjet über Budapest anreisen können, empfehle ich einen Wochen(end)trip.

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie unsexy Literatur für die meisten Leute ist? Und dann auch noch Lyrik? Und im Vergleich mit den anderen Künsten? Sie besteht im wesentlichen aus Buchstaben, die man zusammensetzen muss, die man nicht anfassen kann, und die höchstens jene Art von Bildern ergeben, die man sich selber vorstellen muss. Literaturveranstaltungen sind oft schwerfällig, gerade noch Poetryslams (die ich persönlich nicht so mag) haben wirklich Eventcharakter, Lesungen wirken dröge und wenn es ins Internationale geht, geht sowieso alles "lost in translation". Schon komisch, dass ich das so kurz nach der Buchmesse mit ihren unendlich vielen attraktiven Veranstaltungen in Leipzig sage. Wir haben uns ja sehr amüsiert und interessiert. Aber gerade deshalb, weil man sich dort schon als Teil einer Masse fühlt: Nicht vergessen, wir sind auch nur Freaks. Genauso wie die verkleideten Computerspielteenies...

Liebe Grüße,
Sibylla