Samstag, 26. März 2011

Liebe Sibylla,

ich freue mich dieses Jahr wieder sehr, dass der Frühling angefangen hat. In unserem Hof werden Sträucher gepflanzt, die natürlich noch etwas spärlich aussehen, aber kommende Wirkung andeuten. Es ist eine gute Zeit für Umbrüche. Im Büro sind meine letzten fünf Wochen angebrochen und einerseits kann ich mir gar nicht vorstellen, nicht mehr dort zu sein, andererseits freue ich mich auf die neue Aufgabe, die unter anderem mit mehr Freiheit verbunden ist. So habe ich die Hoffnung auf mehr Mußestunden. Zu dem Thema habe ich neulich auch ein kleines Gedicht geschrieben, das ich dir schon geschickt habe, aber hier nochmal einfügen möchte:

Halt, hiergeblieben

eine Verantwortung hat
süßen Speck mit Grübchen
und überströmende Augen
die ankommen wollen

emsig begangene Wege
nun breiter werdend
führen eventuell zum
ersten Auto und und und
die Muße dreht sich
winkend nochmal um

Über das Auto als Symbol für Unabhängigkeit und ein geregeltes Einkommen musste ich länger nachdenken. Auf eine Art finde ich das Bild nicht ganz zutreffend - davon abgesehen, dass es unoriginell und unlyrisch ist, weil ein Auto eigentlich Luxus ist und es erstmal schon als Erfolg gelten sollte, überhaupt finanziell unabhängig zu sein. Andererseits macht ein Auto als Anreiz mehr Spaß als das pure Überleben, auch wenn es der Beginn einer materiellen Spirale ist. Allgemein verliert das Auto als Statussymbol an Bedeutung, wie ich in der Agentur immer wieder höre. Ich selbst hätte trotzdem lieber ein  Auto als zum Beispiel ein Smartphone (hm, hinkt etwas, weil es nicht die gleiche Preiskategorie ist). Meine Kollegin spricht übrigens immer vom Bionade-Biedermeier, was ich für die heutigen 30- und 40-jähringen sehr passend finde.

Dir auch eine gute Mischung aus Muße und Mühe wünschend, grüßt

deine Eva

P.S. Danke für die Ermutigungen aus deinem letzten Brief!

Dienstag, 15. März 2011

Das Zeitalter der Entdeckungen

Als Kind begab ich mich
auf weite Reisen
fuhr an Küsten entlang
an Halbinseln und an Fjorden
umrundete mit dem Bleistift
Länder und Kontinente
zog auf Packpapier Grenzen nach
die wenig später
aus allen Karten verschwanden

Nie bekam ich das Meer zu Gesicht
entdeckte aber
kaum dass ich lesen konnte
den Salzgeschmack im Wort „Ozean“
watete an langen Nachmittagen
im Sommer
durch das Wort „Bucht“
wie durch eine Brandung
aus Schatten und Licht

Legte ich mich abends
von meinen Reisen heimgekehrt
müde ins Bett
so ließ ich mich treiben
auf geglätteten Wellen
weit hinaus in die Dunkelheit
bis zu jenem unbenennbaren Punkt
an dem Schlaf und Erwachen
einander berühren

von Christian Teissl


Christian Teissl * 1979 lebt in Graz. Er schreibt und veröffentlicht vorwiegend Lyrik (bisher vier Bände) sowie Aufsätze, Glossen und Feuilletons zu Themen aus Literatur, Politik, Film und bildender Kunst. Zusätzlich ist er als Herausgeber von Werken vergessener österreichischer Lyrikerinnen und Lyriker des 20. Jahrhunderts tätig. Mehr auf http://www.christianteissl.at. Besonders zu empfehlen ist sein Gedicht „Ein Mann“, das mittlerweile den Titel "Geschichte vom Doppelgänger" trägt. Es ist in dem dem Band „Die Blumenuhr“, Mitter-Verlag 2010 erschienen und auch online zu lesen unter http://www.poetenladen.de/christian-teissl-lyrik2.htm.

Mittwoch, 2. März 2011

Liebe Eva,

heute Nacht hat es in den Bergen wieder geschneit. Zwar sind in Mostar keine Minusgrade, aber es ist doch eisig, weil ein Wind durchs Tal fegt, den man hier "Babe=Omas" Wind nennt, angeblich nach einer Oma, die beim Schafehüten eingefroren ist. Meine Hoffnung auf einen baldigen Frühling bleibt trotzdem bestehen. Anders als in Berlin, wo ich oft - vielleicht beeinflusst von Szenen aus "Berlin Alexanderplatz" oder so - dachte, dass der Winter besser zur Stadt passt und ihren besonderen Charakter unterstreicht, hält Mostar regelrecht den Atem an, wenn es kalt ist. Die Leute wollen auf der Straße sein, gut aussehen, lange aufbleiben, sich über die Hitze beschweren, ans Meer fahren, Winter wird am besten ignoriert. Im Sommer wird die ungemütliche Kälte dann komplett vergessen und es heißt: Ach, wir haben hier ja nur einen ganz kurzen Winter, ne besondere Heizung oder Isolierung braucht man in Mostar doch nicht...

Ich finde auch, dass regelmäßige Treffen und Austausch mit anderen extrem gut fürs Schreiben sind. Auch weil es motiviert, Neues auszuprobieren, Texte zu überarbeiten, viel zu produzieren. Ich kenne diese Phasen, in denen der Wert der eigenen Texte als sehr gering erscheint, empfinde sie als sehr belastend. Es hemmt dann auch beim Weiterschreiben und allein das ist ätzend, da es einfach fehlt und ein so wichtiger, freudvoller Teil des Alltags zu verblassen scheint. Was deine Texte angeht, mag ich gerade die einfache, ungekünstelte Sprache sehr an ihnen und meistens führt das nicht zu Banalität, sondern zu Klarheit. Aber dass du darüber grübelst und zweifelst ist sicher nicht schlecht: Gerade weil es etwas Wesentliches an deinen Texten ist, ist es wichtig, dass du darüber reflektierst und den Grenzraum "Einfachheit - Konkretheit - Verständlichkeit - Banalität" immer wieder ausmisst. Ich habe ja stattdessen meine regelmäßigen Auseinandersetzungen mit der Kompliziertheit und Unverständlichkeit, die sich meiner Worte immer wieder bemächtigt.

Bei Christophe Fricker lese ich teils eine ähnliche Konkretheit wie bei deinen Gedichten, deshalb habe ich mir schon gedacht, dass dir seine Sachen gefallen. Mich freut besonders, dass das Gedicht von ihm bei uns erstveröffentlicht ist. Unser exklusives Blog...

Viele Grüße und sende bald mal per Mail neue Texte,

Sibylla