Mittwoch, 21. November 2012

Liebe Eva,

es kommt mir so vor, als frage jeden Tag einer "Hast du Lust, Tatort zu gucken?" - ist aber nicht jeden Tag. Es ist schon wieder Sonntag. Eigentlich hat sich seit der Ankunft in Leipzig Ende Oktober ja schon viel getan. Zahlreiche Behörden habe ich von innen gesehen, zahlreiche nummerierte Zettel gezogen, die gröbsten Dinge zur Wiederaufnahme in die deutsche Gesellschaft angestoßen - und doch staut sich da so eine Ungeduld an, eine Unzufriedenheit oder Unfähigkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es scheint mir, jetzt ist bald Weihnachten (am Weihnachtsmarkt bauen sie jedenfalls schon wochenlang rum) und dann ist Silvester und am Neujahrstag wird sich bewahrheiten, was ich bereits ahne: 2012 kann ich eh nichts mehr reißen.

Einen guten Monat sind wir also hier, meine Bosnier und ich. Die Stimmung ist durchwachsen. "Warum tragen die Deutschen alle Jack Wolfskin-Jacken? Was hat es damit auf sich?" "Warum bekomme ich beim kollektiven Pizzaessen immer ein exakt gleich großes Stück zurück, wenn ich jemanden von mir probieren lasse? Und wo ist die Majonnaise?" Ich weiß es nicht und es gibt relevantere Fragen. Aber diese leichte Befremdung spüre ich auch, in beide Richtungen. In meinem letzten Brief hatte ich ja angekündigt, etwas über bosnisch-deutsche Fremdbilder zu schreiben. Leider überwiegt in meiner Wahrnehmung, wahrscheinlich auch ausgelöst durch den kleinen Kulturschock, momentan eher das Negative und Klischeehafte. Wenig Gemeinschafts- und Familiensinn vermutet man auf der einen Seite, überkommene Beziehungs- und Familienmodelle auf der anderen. Bosnier denken vielleicht: "Euer Wohlstand ist unbegrenzt, ihr habt es so leicht" und Deutsche: "Eure Armut ist selbstverschuldet, ihr habt keinen Organisationsgeist und einen Hang zur Kriminalität". Aber vielleicht überbewerte ich momentan auch reservierte Gesichter und Fragen wie "Was macht man denn da unten, in Bosnien und Herzegowina?"

Erst einmal muss ich die Umwälzungen in meinem bosnisch-deutschen Leben etwas besser verdauen, bevor ich überzeugende Worte und Schlussfolgerungen finde. Deshalb halte ich es heute kurz und verbleibe mit einem Fragezeichen.

Gute Nacht,
Sibylla