Dienstag, 28. September 2010

Neu in Neukölln

Da geht er lang
Wind weht unter seine
ausgeblichene blaue Jacke
was zu leichtem Hüpfen führt

Sein Spiegelbild klebt
noch eine weitere Weile
zwischen fein gemusterten
hinter der Scheibe aufgereihten
Bhaklava-Boxen

Bald wird der helle
Strubbel-Schopf
in gewöhnlicher Koexistenz
an den gelglänzenden Köpfen
die Bürgersteigränder säumen
vorbeieilen

Stille

eine fast perfekte Stille liegt über der Stadt
nur vereinzelt weit entfernte Verkehrsgeräusche
lassen sich erlauschen
die Teekanne das Ticken der Thermostatsuhr und
dein schwerer Atem verbreiten Vogelgezwitscher
ab und zu ruft die echte Elster
morgendliche Schlaflosigkeit ist sanfter

Freitag, 24. September 2010

Liebe Sibylla,

ich nehme jetzt erstmal das Versehrtheitsthema wieder auf. Ich gebe dir Recht, dass es für Literatur generell eine Rolle spielt und vor allem die poetische Qualität von Mostar gut trifft. Das spannende an der heutigen Situation finde ich, dass seit der Katastrophe schon wieder einige Zeit vergangen ist. Dieser Zustand zwischen Heilung und Sichtbarkeit der Narben. Versehrtheit ist per se natürlich ein großer Begriff, der auf viele literarische Situationen zutreffen könnte – von Krankheit bis Krieg. Das sind beides menschliche Extremsituationen und dankbarer Stoff für Literatur. Neulich habe ich in irgendeinem Interview gelesen, große Romane könne nur schreiben, wer etwas Extremes erlebt habe. Dem möchte ich nicht zustimmen, Phantasie sollte da einiges wettmachen können. Aber menschliches Leid genau wie Glück findet sich in Geschichten und Gedichten natürlich zugespitzt wieder. Es ist ja auch interessanter und leichter zu beschreiben als das normale Grau. Irgendwas stört mich aber auch an dem Versehrtheits-Begriff. Ich glaube, er ist mir persönlich etwas zu negativ – aber wer möchte schon versehrt sein? - und das Schreiben darüber hat so einen leicht therapeutischen Beigeschmack - aber Therapie ist natürlich auch nötig. Es ist einfach deprimierend, über Krieg nachzudenken und durch immer noch sichtbare Wunden daran erinnert zu werden. Kannst du aus der Versehrtheit an sich für dich persönlich eine poetische Inspiration ziehen?

Über Versehrtheit bin ich noch mal auf die Begriffe Verletzlichkeit, Suggestibilität und Zeitgeist gekommen. In meiner Magisterarbeit habe ich entdeckt, dass Hysterie in dem Roman "Was ich Liebte" von Siri Hustvedt als Metapher für diese drei menschlichen Konditionen verwendet wird. Diese Begriffe sind allgemeiner als Versehrtheit und weniger gewaltsam, sie beschreiben eher, welchen Einflüssen und Abhängigkeiten man täglich ausgesetzt ist, aber eben auch, welche große Rolle die Zeit und die Umgebung, in der man lebt, spielen.

Ich denke gerade oft sehr konkret über meinen unmittelbaren Wohnort nach, weil wir eventuell umziehen. Zum Glück nur innerhalb von Berlin. Von Anfang bis Mitte zwanzig hatte ich ständig Angst, am falschen Ort zu wohnen und dadurch irgendwelche Chancen zu verpassen. Jetzt haben wir endlich eine schöne, praktische, bezahlbare Wohnung im richtigen Viertel gefunden, aber dunkel. Gerade an diesen wenigen Spätsommertagen (heute ist wahrscheinlich der letzte warme Tag für dieses Jahr) nehme ich ganz bewusst Abschied vom Licht, das von draußen rein scheint, denn das wird nächsten Frühling, wenn alles klappt, nicht wiederkommen.

Ach, ich habe übrigens diese Woche das Patti Smith-Buch zu Ende gelesen. In Mostar war ich ja auch schon eine Weile dran. Es hat also lange gedauert und war auch manchmal etwas zäh. Aber ich habe es sehr gerne gelesen. Gerne würde ich mehr von ihren Gedichten lesen. Am Ende musste ich sogar ein bisschen weinen, als Robert an AIDS gestorben ist. Einen Satz mochte ich insgesamt besonders. Er steht, nachdem Smith beschreibt, wie sie  und ihre frisch gefundenen Mitmusiker das erste Mal zum Zuhören im CBGB landen: „Though no one knew it, the stars were aligning, the angels were calling.“ Es ist schon bemerkenswert, wie unbedingt Patti Smith und Robert Mapplethorpe als Künstler berühmt werden wollten. Nur hatte Patti nicht damit gerechnet, dass es bei ihr als Sängerin sein würde. Bei den beiden waren Umfeld und Zeit natürlich auch entscheidend. Um werden zu können, was sie wurden, mussten sie schon nach NYC gehen.

Liebe Grüße nach Mostar,

deine Eva

Mittwoch, 15. September 2010

Als ich
aus meinem Leben fiel
vielleicht wachte da
einer auf

in einer fernen Welt
drehte er und wälzte
sich von einer Seite
zur anderen

ging dann zum Kühlschrank
nahm Milch aus der Tür
wärmte sie und hielt die Tasse
an das Pochen unter der Haut

und die Zeit ging
mir wurden die Worte fremd
als hingen sie an zerschlissenen Fäden

er aber trank und wischte
mit dem Milchbart auch
das Erinnern von seinen Lippen

von Tina Willms

Tina Willms, Jahrgang 63, gelernte Pastorin, jetzt freie Autorin, lebt mit ihrer Familie in Hameln. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, 2003 Predigtpreis des Verlags für die deutsche Wirtschaft, Preisträgerin des Hildesheimer Lyrikwettbewerbs 2010.

Montag, 13. September 2010

Liebe Eva,

die rauhe, etwas ungehobelte Atmosphäre Berlins fällt mir auch immer als erstes auf, wenn ich die Stadt nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersehe. In Straßenbild und Umgangston. Allerdings glaube ich nicht, dass es - im Verhältnis zur Einwohnerzahl - in Berlin mehr Verrückte gibt als in Mostar. Hier schlummert die Verrücktheit vielleicht etwas besser verborgen unter der Oberfläche. Beide Städte sind ganz gute Schulen im Umgang mit menschlicher Unberechenbarkeit.

Nachdem du in deinem Brief einige Parallelen zwischen Berlin und Mostar gesehen hast, fallen mir immer mehr davon auf. Das Nebeneinander von wild und rausgeputzt, schön und hässlich, das du erwähnst, ist eine davon. Auf den Fotos, die du ausgewählt hast, kann man das erahnen. Auch wenn man auf dem ersten Bild nicht sieht, wieviele Ruinen noch in der abgelichteten Straße, der Tito-Straße, stehen und wie nah diese an der perfekt wiederhergestellten Altstadt liegt, mit der alten Brücke in der Mitte, von der das zweite Foto aufgenommen ist. Auf dem dritten Bild die orange-rot-gestreiften Ruinen des geschichtsträchtigen Hotel Neretva. Daneben ein frisch wieder hergestelltes und frisiertes Gebäude, einst für Tito gebaut, falls der mal zu Besuch kommt, heute ein Einkaufszentrum mit Café und Club im Erdgeschoss.

Versehrtheit habe ich als einen möglichen Ausgangspunkt für Schreibprozesse in meinem letzten Brief erwähnt. Versehrtheit ist wesentlicher Aspekt von Mostars Ausstrahlung. Sie irritiert und lässt mich inne halten und nach Worten suchen. Wahrnehmungsgewohnheiten werden unterlaufen und ich denke das ist eine wesentliche poetische Qualität der Stadt. Zudem ist Versehrtheit, so materiell sie sich in Mostar zeigt, etwas sehr Allgemeines oder leicht auch im emotionalen, individuellen Sinne Verallgemeinerbares, etwas, was in der Literatur prinzipiell eine große Rolle spielt.

Ja, ich kenne Tanja Stupar-Trifunović, ich habe sie für eine Lesung zum Thema "Erinnerungen" im Juni zusammen mit Jan Wagner nach Mostar eingeladen. Sie reiste mit ihrem Bruder aus Banja Luka an, wir haben zu dritt Kaffee getrunken und uns dabei auf "Serbisch-Bosnisch" unterhalten, gemäß meiner Sprachkenntnisse war das kein tiefgründiges Gespräch, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Tanjas Gedichte schätze ich sehr, sie kombinieren Trauriges und Lustiges auf einmalige Weise und sind manchmal ein bisschen provokativ, niemals langweilig. Man merkt ihnen an, dass Tanja auch als Journalistin aktiv ist, mit einem scharfen Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen. Wenn sie von ihren Erfahrungen mit dem Krieg in den 90ern schreibt, dann niemals mit einer Betroffenheitsgestik, eher trotzig und auf den Punkt gebracht. Zum Beispiel in ihrem Gedicht "Das Haus": "Ich ging um das Haus zu sehen / Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin / Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind / das sein Haus verlor / mir war überhaupt nicht traurig zumute"... Von Faruk Šehić habe ich Kurzgeschichten gelesen, auch er ist empfehlenswert, man kann auf den Seiten von "traduki" etwas über und von ihm lesen: http://www.traduki.eu/

Gibt es Herbstmüdigkeit? Ich glaube schon. Muss ins Bett. Gute Nacht und bis bald!

Sibylla

Freitag, 3. September 2010

Liebe Sibylla,

jetzt kommt mir die Reise schon wieder so weit weg vor. Zum einen ist es ja auch drei Wochen her und zum anderen war ich schon wieder an einigen anderen Orten; Gießen, Timmdorf/ Malente und im Krankenhaus Lindenhof. Vom Sommer ist auch nicht mehr viel übrig. Aber was mir noch frisch auffällt, ist die Rauheit Berlins, der Dreck, der vielfach harte Ton und die ganzen Verrückten. Als ich das erste Mal wieder einkaufen war, habe ich mich richtig über die vielen fertigen Leute erschrocken, die vor sich hin oder einander anbrüllen.

Ich finde, Mostar hat was mit Berlin gemeinsam, indem es so vielfältig ist. Schön und hässlich gleichzeitig. Die ganzen Ruinen in Mostar beherbergen viel Müll und erinnern an den Krieg und die immer noch bestehende Teilung, aber diese wilden Elemente in der Stadtarchitektur gefallen mir auch, wenn Bäume aus Dächern wachsen und es nebeneinander enge alte Gassen, verspielte Prachtbauten, Zeichen des Sozialismus und moderner Großstadtarchitektur gibt. Ganz anders als in Berlin ist natürlich das bergige und die zentralere Rolle des wilderen Flusses, ganz abgesehen von der üppigeren Flora. Was daraus poetisch erwächst bzw. erwachsen könnte, möchte ich an dieser Stelle vertagen. Aber ich hänge dafür ein paar Fotos von Mostar an.

Vorhin habe ich mir das Programm vom kommenden Literaturfestival angeguckt. Ist Tanja Stupar-Trifunović nicht die Autorin, die du ganz gut kennst und die auch bei deiner Veranstaltung war? Ansonsten ist noch Faruk Šehić aus Bosnien Herzegowina da und Nicol Ljubic, ein Deutscher mit bosnischem Hintergrund.

Liebste Grüße,
deine Eva