Dienstag, 23. November 2010

Liebe Eva

„Axolotl Roadkill“ sollte ich bald lesen… auch weil es von zeitgenössischem Theater beeinflusst ist, denn das ist ja momentan mein berufliches Schwerpunktgebiet. Seit über einem Jahr arbeite ich jetzt für das „Mostarski teatar mladih“ – und ich muss sagen, dass die Welt der Bühne sich für mich nur langsam und partiell öffnet. Das Ergebnis, die Aufführung, am liebsten in einem kleineren alternativen Rahmen, konnte mich schon immer sehr berühren, doch Theater ist ja noch viel mehr. Meine scharfsinnigen bisherigen Konklusionen: Wer Theater macht oder als Schauspieler arbeitet, begibt sich in ein ungewöhnliches soziales Gefüge. Er oder sie arbeitet in Bezug auf Gesellschaft, es gibt keine andere der Literatur nahestehende Kunst, die so sehr auf Interaktion und Kommunikation baut. Und Theaterleute wirken nicht nur stets darauf hin, ihre Arbeit öffentlich zu präsentieren, sie kleben auch intern zusammen, sind stark aufeinander bezogen, im Guten wie im Schlechten. Theater erscheint mir manchmal als Gegenteil von Lyrik, Lyrik im Vergleich wie ein Rückzugsgebiet aus dem Geflecht menschlicher Beziehungen. Ich rede jetzt nicht davon, dass Lyrik inhaltlich abgehoben sein muss, sondern von den möglichen Praktiken des Gedichte-Schreibens und -Vortragens. Ich weiß, es muss nicht so sein, aber nicht jede Lyrikerin ist Patti Smith und das ist auch OK. Für mich persönlich wird Lyrik immer Ausgangspunkt bleiben, auch wenn es gut ist, weiter zu gehen.

Mädchen wie Helene Hegemann lösen übrigens Neidgefühle in mir aus, leider. Klar haben die auch ihr hartes Brot zu kauen, aber es ist doch ungerecht, dass da jemand einfach so in ein anregendes, gesellschaftlich relevantes Milieu hineinwächst; dass da ein jugendliches Fragen und Nachdenken unmittelbar auf interessante Antworten, auf adäquate Gesprächspartner stößt. Oder was meinst du?

Über Existenzbedingungen als Autor/in habe ich in Prischtina mit niemandem geredet… aber natürlich klingen gewisse Sorgen oder Probleme immer wieder an. Gerade so nach dem Studium, mit Mitte, Ende 20 ist kaum jemand sorgenfrei. Wir sind jetzt erstmal fein raus, aber bei mir ist definitiv schon die Phase eingetreten, in der ich mich um einen guten Anschluss sorge, auch wenn mein Stipendium noch bis nächsten Sommer geht. Schöner wäre es, nicht schon so weit denken zu müssen und einfach die Gegenwart bestmöglichst zu gestalten.

Sogut es geht im Dauerregen, der vor einigen Tagen eingesetzt hat. Es ist sogar ein Dauergewitter. Und das ist hier völlig normal. In Deutschland habe ich so etwas noch nie erlebt. Es gewittert in der Nacht und braut sich direkt über der Stadt zusammen, dann entfernt es sich etwas, donnert von Ferne, ab und zu ein Blitz, so geht das den ganzen Tag. In der Nacht wieder Unwetter usw. Ich ziehe jetzt erstmal um. Zum dritten Mal seit ich in Mostar bin. Ist übrigens angenehm ohne Möbel und mit leichtem Gepäck. Und ich werde direkt an der Neretva wohnen, was so ungefähr das Schönste ist, was man sich vorstellen kann… Du musst wissen: „Mädchen wie ich“ lösen hier schnell Neidgefühle aus – zu Recht. Die Wohnung, die weniger als halb soviel kostet wie alles Vergleichbare in Berlin, ist für die wenigsten Leute hier erschwinglich. Mit dem paycheck aus dem Westen ist das Leben ein Spielplatz. Wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Wenn auch nicht immer.

Gewittrige Grüße

Sibylla