Dienstag, 28. Dezember 2010

Liebe Eva,

zwischen den Jahren. Ich mag diese Zeit, sie entspricht meinem melancholischen Wesen. Es stört nur etwas, dass mir gar keine guten Vorsätze für 2011 einfallen. Bin ich etwa zufrieden mit mir? Nein soweit ist es wohl noch nicht gekommen!

Ich freue mich schon so sehr darauf, Ende Januar nach Berlin zu reisen. Nach so langer Zeit. Ich träume von der Stadt, wie sie mich verschluckt und ich durch ihre Innereien wandere. Es war eine gute Entscheidung, Weihnachten in Mostar zu verbringen und erst später einen Heimatbesuch zu starten. So gibt es schon etwas, worauf ich mich im neuen Jahr freuen kann - und von den ganzen negativen Seiten des Fests habe ich kaum etwas mitgekriegt, keine schneebehinderte Anreise, kein Familienkoller, kein übertriebener Geschenkeaufwand.

Du hast schon recht, dass Weihnachten hier ziemlich seltsam ist, die muslimische Seite der Stadt läuft einfach normal weiter (sehr befremdlich!) und auch auf der katholischen Seite ist der Weihnachtstrubel in keinster Weise mit dem zu vergleichen, was man aus Deutschland kennt. Gerade daher habe ich aber meine Prägung durch/Gewöhnung an dieses Fest gemerkt und es für mich allein zelebriert. U.a. mit einer Menge an Weihnachtsfilmen und Weihnachtsliedern, meistens aus dem anglo-amerikanischen Raum - ich hatte die amerikanischsten Weihnachten meines Lebens in Mostar und zumindest mit den Liedern fällt es mir nun regelrecht schwer, wieder aufzuhören. "Its beginning to look a lot like christ-mas!..."

Ich wünsche dir und allen unseren Leserinnen und Lesern eine schöne Silvesterfeier und einen guten Rutsch. Auf ein baldiges Wiedersehen im Jahr 2011!

Sibylla

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Das Haus

Ich ging um das Haus zu sehen
Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin
Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind
das sein Haus verlor
mir war überhaupt nicht traurig zumute
zuerst freute mich die Veränderung
eine andere Stadt andere Menschen
die Verzweiflung der Eltern wunderte mich
es gebe auch Häuser außer diesem Haus glaubte ich
Ich redete Unsinn
Erinnerungen werden von Häusern gehalten wie eine Kirsche von ihrem Stiel
sie werden reif und man spuckt ihren harten Kern aus und isst das Schmackhafte
Häuser sind nur trübe Moraste dunkle Flure Geister in der Flasche
der wahre Ort der Seele ist die Kreuzung an der immerzu der Wind neuer Anfänge bläst
Mit den Jahren dachte ich immer mehr an das Haus
Es erschien mir im Traum
seine Flure seine Türen seine Fenster
Es dauerte lange bis ich begriff dass ich wegen des Hauses unglücklich bin
und dass ich nicht weiterleben kann ohne hinzugehen und mich neben ihm auszuweinen
Das Haus ist groß und weiß die Sonne dringt ins Glas die Hitze brennt
ich stehe vor dem Haus und weine
Das ist ihr Haus sagt mein Mann zu unbekannten Leuten
sie wundern sich und zucken mit den Schultern
Hier hat sie mal gelebt sie will es nur sehen alles in Ordnung sie will nur das Haus sehen
Ich betrachte das Haus
Ein blonder Junge rennt an mir vorbei es ist mein Bruder
es ist nicht mein Bruder mein Bruder ist jetzt ein Mann und lebt in einer anderen Stadt
Das Haus ist ein Labyrinth ich darf es nicht betreten das leere Innere könnte mich verschlingen
ich betrachte es nur von außen es umarmt mich und stößt mich weg
das ist mein Haus
Wie alle Erinnerungen in ein paar Minuten Platz haben
das Überspringen des Zauns
der Gully neben der Wand die Garage der Brunnen
der Pflaumenbaum ist kleiner geworden sage ich unter Tränen
alles ist kleiner geworden
ich bin ohne das Haus mit den weißen Wänden aufgewachsen
Nie mehr möchte ich ein Haus haben
wir kaufen eine Wohnung


von Tanja Stupar-Trifunović
Deutsch von Alida Bremer

Tanja Stupar-Trifunović *1977 in Zadar (Kroatien), lebt und arbeitet als Journalistin und Dichterin in Banja Luka (Bosnien und Herzegowina), sie veröffentlichte seit 1999 mehrere preisgekrönte Gedichtbände. Durch Übersetzungen ihrer Gedichte u.a. ins Englische, Deutsche und Polnische ist sie auch international präsent, 2010 trat sie auf dem internationalen literaturfestival berlin auf.

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Liebe Sibylla,

bei mir gehts mit dem Neid auf Leute wie Helene Hegemann. Natürlich ist dieses Erfolgreiche-Künstler- und Intellektuellenumfeld hilfreich, aber ich stelle es mir auch anstrengend vor. Und jetzt hat sie noch so viele Jahre vor sich, die sie hohem Erwartungsdruck standhalten muss. Außerdem habe ich Respekt davor, dass sie so jung schon so konzentriert und fleißig arbeitet. Wenn, dann beneide ich diese Zielstrebigkeit und diesen Eifer. Neid und Leid tun ganz nah.


Als wir mit dem Blog angefangen haben, waren wir ja noch überrascht, dass es nicht so viele Literaturblogs gibt oder sie so schwer zu finden sind. Ich denke immer noch, dass es sich um eine überschaubare Menge handelt und vor allem, dass diese miteinander recht gut vernetzt sind. Aber es scheint ein offenes Netzwerk zu sein. Offener als der Literaturbetrieb draußen. Über manche Neuentdeckungen während der letzten Tage, wie Fixpoetry und Forum der 13, freue ich mich. Hilfreich ist auch die Autorinnenvereingung mit ihrem Amelia Blog, die jetzt auch den Goldstaub-Wettbewerb veranstaltet. Unsere Liste ist natürlich noch am Anfang, aber ich finde gut, wenn sie langsam mit unserem Blog wächst.


Der ganze Brief schlägt eine ganz schön streberhafte Richtung ein, aber was ich noch erzählen wollte – meine Arbeit als Texterin ist auch fürs Schreiben hilfreich. Man lernt, nicht zu schnell zufrieden zu sein, Sachen immer wieder zu überarbeiten und tragfähige Ideen zu entwickeln. Auch Sachen wegzuwerfen und was für große Unterschiede, zum Beispiel bei dreiteiligen Namen, jedes Wort macht. Nicht zuletzt wird der Einfallsreichtum angekurbelt. Durch den Anfahrtsweg habe ich auch wieder Zeit zum Lesen, in der U-Bahn. Achja, aber natürlich hat die Arbeit nicht nur Vorteile und anderes leidet.



Viele Grüße aus dem vorweihnachtlichen Berlin,

deine Eva


P.S. Das ist in Mostar bestimmt komisch, eine Seite ganz geschmückt und die andere gar nicht oder habe ich da falsche Vorstellungen? Du würdest ja auf die geschmückte gucken...

Dienstag, 23. November 2010

Liebe Eva

„Axolotl Roadkill“ sollte ich bald lesen… auch weil es von zeitgenössischem Theater beeinflusst ist, denn das ist ja momentan mein berufliches Schwerpunktgebiet. Seit über einem Jahr arbeite ich jetzt für das „Mostarski teatar mladih“ – und ich muss sagen, dass die Welt der Bühne sich für mich nur langsam und partiell öffnet. Das Ergebnis, die Aufführung, am liebsten in einem kleineren alternativen Rahmen, konnte mich schon immer sehr berühren, doch Theater ist ja noch viel mehr. Meine scharfsinnigen bisherigen Konklusionen: Wer Theater macht oder als Schauspieler arbeitet, begibt sich in ein ungewöhnliches soziales Gefüge. Er oder sie arbeitet in Bezug auf Gesellschaft, es gibt keine andere der Literatur nahestehende Kunst, die so sehr auf Interaktion und Kommunikation baut. Und Theaterleute wirken nicht nur stets darauf hin, ihre Arbeit öffentlich zu präsentieren, sie kleben auch intern zusammen, sind stark aufeinander bezogen, im Guten wie im Schlechten. Theater erscheint mir manchmal als Gegenteil von Lyrik, Lyrik im Vergleich wie ein Rückzugsgebiet aus dem Geflecht menschlicher Beziehungen. Ich rede jetzt nicht davon, dass Lyrik inhaltlich abgehoben sein muss, sondern von den möglichen Praktiken des Gedichte-Schreibens und -Vortragens. Ich weiß, es muss nicht so sein, aber nicht jede Lyrikerin ist Patti Smith und das ist auch OK. Für mich persönlich wird Lyrik immer Ausgangspunkt bleiben, auch wenn es gut ist, weiter zu gehen.

Mädchen wie Helene Hegemann lösen übrigens Neidgefühle in mir aus, leider. Klar haben die auch ihr hartes Brot zu kauen, aber es ist doch ungerecht, dass da jemand einfach so in ein anregendes, gesellschaftlich relevantes Milieu hineinwächst; dass da ein jugendliches Fragen und Nachdenken unmittelbar auf interessante Antworten, auf adäquate Gesprächspartner stößt. Oder was meinst du?

Über Existenzbedingungen als Autor/in habe ich in Prischtina mit niemandem geredet… aber natürlich klingen gewisse Sorgen oder Probleme immer wieder an. Gerade so nach dem Studium, mit Mitte, Ende 20 ist kaum jemand sorgenfrei. Wir sind jetzt erstmal fein raus, aber bei mir ist definitiv schon die Phase eingetreten, in der ich mich um einen guten Anschluss sorge, auch wenn mein Stipendium noch bis nächsten Sommer geht. Schöner wäre es, nicht schon so weit denken zu müssen und einfach die Gegenwart bestmöglichst zu gestalten.

Sogut es geht im Dauerregen, der vor einigen Tagen eingesetzt hat. Es ist sogar ein Dauergewitter. Und das ist hier völlig normal. In Deutschland habe ich so etwas noch nie erlebt. Es gewittert in der Nacht und braut sich direkt über der Stadt zusammen, dann entfernt es sich etwas, donnert von Ferne, ab und zu ein Blitz, so geht das den ganzen Tag. In der Nacht wieder Unwetter usw. Ich ziehe jetzt erstmal um. Zum dritten Mal seit ich in Mostar bin. Ist übrigens angenehm ohne Möbel und mit leichtem Gepäck. Und ich werde direkt an der Neretva wohnen, was so ungefähr das Schönste ist, was man sich vorstellen kann… Du musst wissen: „Mädchen wie ich“ lösen hier schnell Neidgefühle aus – zu Recht. Die Wohnung, die weniger als halb soviel kostet wie alles Vergleichbare in Berlin, ist für die wenigsten Leute hier erschwinglich. Mit dem paycheck aus dem Westen ist das Leben ein Spielplatz. Wenn auch nicht in jeder Hinsicht. Wenn auch nicht immer.

Gewittrige Grüße

Sibylla

Mittwoch, 17. November 2010

geknickt an mauern

geknickt an mauern zwischen 3
und 5 im milchmondschein sind
alle fahrräder gestorben in die

stille fällt noch schnee ein taxi
trägt die letzen lieder aus doch
damit ist nicht er gemeint und eine

morsche kiste liegt gekippt drin
warten 7 wilde mandarinen denn
der tag wird kommen und zwar

gewiss dicht zieht er die fremde
hand in seine achselhöhle unterm
pflaster tastet er mit violettem

zeh nach glut und schürft zurück
auf bleicher spur im eigenwanken
gang er ist recht nachdenklich

schwarzen katzen soll man folgen
im treppenhaus noch in der früh
trinkt er vor frost ein mädchen leer

von Luise Boege

Luise Boege *1985 in Würzburg, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig 2004 bis 2009, lebt und arbeitet seit 2009 in Berlin. 2005 Preis des Hörspielsommers Leipzig, 2006 Preisträgerin des open mikes.

Freitag, 29. Oktober 2010

Liebe Sibylla,

so wie du den Begriff jetzt beschrieben hast, kann ich ihn viel besser nachvollziehen. In dieser Form ist Versehrtheit auch eine Frage der Ästhetik – Schönheit mit Brüchen ist spannender, das Schöne im Hässlichen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann empfehlen (habe ich heute fertig gelesen). Der Roman geht allerdings über Brüche hinaus, er beschreibt eine kaputte 16-Jährige und ist ziemlich hart, so zugespitzt, dass es auch witzig ist. In Form und Inhalt radikal enthält er Gesellschaftskritik ohne zu moralisch zu sein. Man merkt, dass sie stark von Theaterleuten wie Pollesch und Schlingensief beeinflusst ist. Also ich hatte zunehmend mehr Spaß und fand ihn am Ende richtig intelligent und punkig.

Ich finde es super, dass du bei dem Literaturfestival in Priština gelesen hast, und dass es gut war. Hast du mit den anderen eigentlich auch mal über ihre Existenzbedingungen als AutorInnen geredet? Wir haben ja beide kurzfristig einen beruflichen Rahmen, Ruhe. Aber dieses ganze Warten, Bewerben und sich Fragen ist noch sehr nah und kommt wahrscheinlich auch mal zurück. Allerdings hoffe ich, dass wir das Schlimmste geschafft haben. Habe diese Woche ein Interview mit Christiane Rösinger gelesen, und sie sagt zu Recht, dass es eigentlich gar keine Bohemians mehr gibt, sondern nur noch Prekariat. Wenn ich an meine berufliche Einstellung mit Anfang zwanzig zurück denke, hat sich da viel geändert. Früher war mein Hauptziel immer, ja nicht zuviel zu arbeiten und schon gar nicht etwas, das langweilig bzw. normal ist. Jetzt werde ich sehr froh sein, überhaupt mit einer Arbeit Geld zu verdienen, für die mich irgendwie mein Studium qualifiziert. Und Geld wird entgegen meiner Erwartungen doch immer wichtiger… Als Studentin mit leicht überdurchschnittlichem Unterhalt kann man noch behaupten, Geld sei einem nicht so wichtig. Keine Angst, ich bin jetzt nicht völlig verdorben und Veröffentlichungen werden mir mehr Befriedigung als Geld verschaffen, aber das Leben in diesem System ist nur ok, wenn man mitkonsumieren kann. Von diesem Luxusspaß abgesehen, will man ja wenigstens seine Miete und sein Essen selber zahlen können. Ich bin wohl noch davon beeinflusst, dass ich gestern nach sehr langer Zeit persönlich was beim Jobcenter klären musste. Es ist jedes Mal deprimierend und macht sehr wütend. Und es gibt danach immer viel zu erzählen, schon komisch, dass das so aufwühlt. Das Rollbergkino, vor dessen Schild ich lange in der Schlange stand, bietet Di-So Ermäßigungen für Schüler, Studenten und ALG II-Bezieher. Da fehlen nur noch Rentner und man kann lebenslänglich vergünstigt ins Kino…

Viele Grüße,

deine Eva

Montag, 18. Oktober 2010

Liebe Eva,

am Sonntag bin ich von dem Poesiefestival "Polip" in Priština, Kosovo, zurück gekommen und bin noch ganz erfüllt von den vielen neuen Eindrücken, der guten Atmosphäre auf den Veranstaltungen, der meist sympathischen Chaotik der Stadt, dem Kennenlernen der anderen Dichter/innen und ihrer Texte. Schön war vor allem die abwechslungsreiche Gestaltung der Lesungen, es wurden u.a. Gedichte auf Albanisch, Kroatisch, Deutsch und Serbisch gelesen, außerdem gab es Livemusik, Hörspiele und Videoprojektionen. So war es stets spannend und unterhaltsam, auch wenn man nicht alle Sprachen verstanden hat und sich streckenweise mit dem reinen Sprach-Klang zufrieden geben musste. Sehr beeindruckt hat mich der aus Albanien stammende Dichter Ilir Ferra, der in Österreich lebt und auch auf Deutsch schreibt. Ein noch weit entferntes Ziel für mich, in der hiesigen Sprache schreiben zu können... Ich selber habe an erster Stelle Gedichte zu besonderen Orten in Bosnien und Herzegowina gelesen.

In deinem letzten Brief stimmst du mir zwar zu, dass Versehrtheit ein wichtiger Begriff in der Literatur ist und dass er die Ausstrahlung von Mostar gut beschreibt, stehst ihm aber auch skeptisch gegenüber. Wer möchte schon versehrt sein? Und welche Literatur mit dem Attribut "therapeuthisch" versehen? Ich verstehe was du meinst. Allerdings denke ich bei Versehrtheit, auch bei der von Mostar, gar nicht so unbedingt und automatisch an Krieg und Schmerz. Es stimmt, es geht hier auch 15 Jahre danach ständig um den Krieg und wie können die Narben wirklich heilen, solange die Stadt geteilt ist? Trotzdem gibt es für mich auch eine eher symbolische Ebene, auf der ich mich von den realen Geschehnissen, die schrecklich waren, distanzieren kann. Die Einheimischen mögen es verständlicherweise nicht, dass die Touristen so gerne die skurrilen Ruinen mitten in der Stadt, Zeichen der Versehrtheit, fotografieren. Aber für die Touristen und auch für mich, irgendwo im Dazwischen verortet, sind diese Gebäude erstmal nur interessant, nie gesehen, unerhört, sogar schön mit Rostflecken, Glasscherben und wuchernden Pflanzen. Bei aller Betroffenheit ist finde ich auch diese Perspektive verständlich.

Das ist so ein bisschen das Gegenteil von therapeutisch, entspricht so einer gewissen menschlichen Lust an der Traurigkeit, wie sie übrigens besonders gekonnt in Sevdah-Liedern, den typisch bosnischen, stets von unerfüllter Liebe handelnden Volksliedern gepflegt wird. Über diese Liedtradition gibt es einen Film, der unter anderem in Mostar spielt, hier ist der Link zu einem Teaser: http://www.youtube.com/watch?v=u3QS6A6_Xi0
Der Film heißt einfach "Sevdah", ist von Marina Andree und ist sehr empfehlenswert. Wer sich für BiH interessiert, sollte ihn unbedingt schauen.

Soviel für heute. Liebe Grüße!

Sibylla

Freitag, 15. Oktober 2010

verortet

alles in allem der provozierende regen
der fade bleigeschmack im zwielicht ich
kaute den ortskern vermaß den eigenen
schatten hinterrücks zogen die wolken

vorbei der gaffenden gab ich ein
rätsel auf wer denn die statik
der bäume bestimme wenn nicht sie und trottete weiter
es ging weder bergauf noch bergab

hier herrschte das mittelmaß selbst
die prügelei an der ecke ging unblutig aus
man gab sich damit zufrieden nicht gewinnen zu können

und tröstete sich später sagte ich über
die rissige karte gebeugt ein ort an dem nichts
mehr geschieht wird irgendwann verschwinden

von Thomas Rackwitz

Thomas Rackwitz * 1981, lebt in Berlin und Gröbers, zuletzt erschienen „in halle schläft der hund beim pinkeln ein“ und „grenzland“ (mehr unter www.thomasrackwitz.de).

Dienstag, 28. September 2010

Neu in Neukölln

Da geht er lang
Wind weht unter seine
ausgeblichene blaue Jacke
was zu leichtem Hüpfen führt

Sein Spiegelbild klebt
noch eine weitere Weile
zwischen fein gemusterten
hinter der Scheibe aufgereihten
Bhaklava-Boxen

Bald wird der helle
Strubbel-Schopf
in gewöhnlicher Koexistenz
an den gelglänzenden Köpfen
die Bürgersteigränder säumen
vorbeieilen

Stille

eine fast perfekte Stille liegt über der Stadt
nur vereinzelt weit entfernte Verkehrsgeräusche
lassen sich erlauschen
die Teekanne das Ticken der Thermostatsuhr und
dein schwerer Atem verbreiten Vogelgezwitscher
ab und zu ruft die echte Elster
morgendliche Schlaflosigkeit ist sanfter

Freitag, 24. September 2010

Liebe Sibylla,

ich nehme jetzt erstmal das Versehrtheitsthema wieder auf. Ich gebe dir Recht, dass es für Literatur generell eine Rolle spielt und vor allem die poetische Qualität von Mostar gut trifft. Das spannende an der heutigen Situation finde ich, dass seit der Katastrophe schon wieder einige Zeit vergangen ist. Dieser Zustand zwischen Heilung und Sichtbarkeit der Narben. Versehrtheit ist per se natürlich ein großer Begriff, der auf viele literarische Situationen zutreffen könnte – von Krankheit bis Krieg. Das sind beides menschliche Extremsituationen und dankbarer Stoff für Literatur. Neulich habe ich in irgendeinem Interview gelesen, große Romane könne nur schreiben, wer etwas Extremes erlebt habe. Dem möchte ich nicht zustimmen, Phantasie sollte da einiges wettmachen können. Aber menschliches Leid genau wie Glück findet sich in Geschichten und Gedichten natürlich zugespitzt wieder. Es ist ja auch interessanter und leichter zu beschreiben als das normale Grau. Irgendwas stört mich aber auch an dem Versehrtheits-Begriff. Ich glaube, er ist mir persönlich etwas zu negativ – aber wer möchte schon versehrt sein? - und das Schreiben darüber hat so einen leicht therapeutischen Beigeschmack - aber Therapie ist natürlich auch nötig. Es ist einfach deprimierend, über Krieg nachzudenken und durch immer noch sichtbare Wunden daran erinnert zu werden. Kannst du aus der Versehrtheit an sich für dich persönlich eine poetische Inspiration ziehen?

Über Versehrtheit bin ich noch mal auf die Begriffe Verletzlichkeit, Suggestibilität und Zeitgeist gekommen. In meiner Magisterarbeit habe ich entdeckt, dass Hysterie in dem Roman "Was ich Liebte" von Siri Hustvedt als Metapher für diese drei menschlichen Konditionen verwendet wird. Diese Begriffe sind allgemeiner als Versehrtheit und weniger gewaltsam, sie beschreiben eher, welchen Einflüssen und Abhängigkeiten man täglich ausgesetzt ist, aber eben auch, welche große Rolle die Zeit und die Umgebung, in der man lebt, spielen.

Ich denke gerade oft sehr konkret über meinen unmittelbaren Wohnort nach, weil wir eventuell umziehen. Zum Glück nur innerhalb von Berlin. Von Anfang bis Mitte zwanzig hatte ich ständig Angst, am falschen Ort zu wohnen und dadurch irgendwelche Chancen zu verpassen. Jetzt haben wir endlich eine schöne, praktische, bezahlbare Wohnung im richtigen Viertel gefunden, aber dunkel. Gerade an diesen wenigen Spätsommertagen (heute ist wahrscheinlich der letzte warme Tag für dieses Jahr) nehme ich ganz bewusst Abschied vom Licht, das von draußen rein scheint, denn das wird nächsten Frühling, wenn alles klappt, nicht wiederkommen.

Ach, ich habe übrigens diese Woche das Patti Smith-Buch zu Ende gelesen. In Mostar war ich ja auch schon eine Weile dran. Es hat also lange gedauert und war auch manchmal etwas zäh. Aber ich habe es sehr gerne gelesen. Gerne würde ich mehr von ihren Gedichten lesen. Am Ende musste ich sogar ein bisschen weinen, als Robert an AIDS gestorben ist. Einen Satz mochte ich insgesamt besonders. Er steht, nachdem Smith beschreibt, wie sie  und ihre frisch gefundenen Mitmusiker das erste Mal zum Zuhören im CBGB landen: „Though no one knew it, the stars were aligning, the angels were calling.“ Es ist schon bemerkenswert, wie unbedingt Patti Smith und Robert Mapplethorpe als Künstler berühmt werden wollten. Nur hatte Patti nicht damit gerechnet, dass es bei ihr als Sängerin sein würde. Bei den beiden waren Umfeld und Zeit natürlich auch entscheidend. Um werden zu können, was sie wurden, mussten sie schon nach NYC gehen.

Liebe Grüße nach Mostar,

deine Eva

Mittwoch, 15. September 2010

Als ich
aus meinem Leben fiel
vielleicht wachte da
einer auf

in einer fernen Welt
drehte er und wälzte
sich von einer Seite
zur anderen

ging dann zum Kühlschrank
nahm Milch aus der Tür
wärmte sie und hielt die Tasse
an das Pochen unter der Haut

und die Zeit ging
mir wurden die Worte fremd
als hingen sie an zerschlissenen Fäden

er aber trank und wischte
mit dem Milchbart auch
das Erinnern von seinen Lippen

von Tina Willms

Tina Willms, Jahrgang 63, gelernte Pastorin, jetzt freie Autorin, lebt mit ihrer Familie in Hameln. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, 2003 Predigtpreis des Verlags für die deutsche Wirtschaft, Preisträgerin des Hildesheimer Lyrikwettbewerbs 2010.

Montag, 13. September 2010

Liebe Eva,

die rauhe, etwas ungehobelte Atmosphäre Berlins fällt mir auch immer als erstes auf, wenn ich die Stadt nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersehe. In Straßenbild und Umgangston. Allerdings glaube ich nicht, dass es - im Verhältnis zur Einwohnerzahl - in Berlin mehr Verrückte gibt als in Mostar. Hier schlummert die Verrücktheit vielleicht etwas besser verborgen unter der Oberfläche. Beide Städte sind ganz gute Schulen im Umgang mit menschlicher Unberechenbarkeit.

Nachdem du in deinem Brief einige Parallelen zwischen Berlin und Mostar gesehen hast, fallen mir immer mehr davon auf. Das Nebeneinander von wild und rausgeputzt, schön und hässlich, das du erwähnst, ist eine davon. Auf den Fotos, die du ausgewählt hast, kann man das erahnen. Auch wenn man auf dem ersten Bild nicht sieht, wieviele Ruinen noch in der abgelichteten Straße, der Tito-Straße, stehen und wie nah diese an der perfekt wiederhergestellten Altstadt liegt, mit der alten Brücke in der Mitte, von der das zweite Foto aufgenommen ist. Auf dem dritten Bild die orange-rot-gestreiften Ruinen des geschichtsträchtigen Hotel Neretva. Daneben ein frisch wieder hergestelltes und frisiertes Gebäude, einst für Tito gebaut, falls der mal zu Besuch kommt, heute ein Einkaufszentrum mit Café und Club im Erdgeschoss.

Versehrtheit habe ich als einen möglichen Ausgangspunkt für Schreibprozesse in meinem letzten Brief erwähnt. Versehrtheit ist wesentlicher Aspekt von Mostars Ausstrahlung. Sie irritiert und lässt mich inne halten und nach Worten suchen. Wahrnehmungsgewohnheiten werden unterlaufen und ich denke das ist eine wesentliche poetische Qualität der Stadt. Zudem ist Versehrtheit, so materiell sie sich in Mostar zeigt, etwas sehr Allgemeines oder leicht auch im emotionalen, individuellen Sinne Verallgemeinerbares, etwas, was in der Literatur prinzipiell eine große Rolle spielt.

Ja, ich kenne Tanja Stupar-Trifunović, ich habe sie für eine Lesung zum Thema "Erinnerungen" im Juni zusammen mit Jan Wagner nach Mostar eingeladen. Sie reiste mit ihrem Bruder aus Banja Luka an, wir haben zu dritt Kaffee getrunken und uns dabei auf "Serbisch-Bosnisch" unterhalten, gemäß meiner Sprachkenntnisse war das kein tiefgründiges Gespräch, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Tanjas Gedichte schätze ich sehr, sie kombinieren Trauriges und Lustiges auf einmalige Weise und sind manchmal ein bisschen provokativ, niemals langweilig. Man merkt ihnen an, dass Tanja auch als Journalistin aktiv ist, mit einem scharfen Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen. Wenn sie von ihren Erfahrungen mit dem Krieg in den 90ern schreibt, dann niemals mit einer Betroffenheitsgestik, eher trotzig und auf den Punkt gebracht. Zum Beispiel in ihrem Gedicht "Das Haus": "Ich ging um das Haus zu sehen / Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin / Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind / das sein Haus verlor / mir war überhaupt nicht traurig zumute"... Von Faruk Šehić habe ich Kurzgeschichten gelesen, auch er ist empfehlenswert, man kann auf den Seiten von "traduki" etwas über und von ihm lesen: http://www.traduki.eu/

Gibt es Herbstmüdigkeit? Ich glaube schon. Muss ins Bett. Gute Nacht und bis bald!

Sibylla

Freitag, 3. September 2010

Liebe Sibylla,

jetzt kommt mir die Reise schon wieder so weit weg vor. Zum einen ist es ja auch drei Wochen her und zum anderen war ich schon wieder an einigen anderen Orten; Gießen, Timmdorf/ Malente und im Krankenhaus Lindenhof. Vom Sommer ist auch nicht mehr viel übrig. Aber was mir noch frisch auffällt, ist die Rauheit Berlins, der Dreck, der vielfach harte Ton und die ganzen Verrückten. Als ich das erste Mal wieder einkaufen war, habe ich mich richtig über die vielen fertigen Leute erschrocken, die vor sich hin oder einander anbrüllen.

Ich finde, Mostar hat was mit Berlin gemeinsam, indem es so vielfältig ist. Schön und hässlich gleichzeitig. Die ganzen Ruinen in Mostar beherbergen viel Müll und erinnern an den Krieg und die immer noch bestehende Teilung, aber diese wilden Elemente in der Stadtarchitektur gefallen mir auch, wenn Bäume aus Dächern wachsen und es nebeneinander enge alte Gassen, verspielte Prachtbauten, Zeichen des Sozialismus und moderner Großstadtarchitektur gibt. Ganz anders als in Berlin ist natürlich das bergige und die zentralere Rolle des wilderen Flusses, ganz abgesehen von der üppigeren Flora. Was daraus poetisch erwächst bzw. erwachsen könnte, möchte ich an dieser Stelle vertagen. Aber ich hänge dafür ein paar Fotos von Mostar an.

Vorhin habe ich mir das Programm vom kommenden Literaturfestival angeguckt. Ist Tanja Stupar-Trifunović nicht die Autorin, die du ganz gut kennst und die auch bei deiner Veranstaltung war? Ansonsten ist noch Faruk Šehić aus Bosnien Herzegowina da und Nicol Ljubic, ein Deutscher mit bosnischem Hintergrund.

Liebste Grüße,
deine Eva














Donnerstag, 19. August 2010

der halbe Mond schwimmt am Taghimmel

blasser Rest einer Brausetablette
kurz vor der Auflösung

umso größer und umgekippt
liegt er nachts auf dem Rücken
ein fettgelb gefärbter Käfer

ich möchte
erkennen ob er strampelt da
verbirgt ihn schon ein Berg

Mittwoch, 18. August 2010

Liebe Eva,

jetzt hast du Mostar kennen gelernt und einen Eindruck davon bekommen, was mich jeden Tag umgibt. Wir haben aber noch nicht darüber geredet, was die Stadt und ihre Umgebung für poetische Qualitäten hat - und das obwohl wir von meinem Balkon eine Sternschnuppe knallrot und waagerecht, sekundenlang gesehen und brutzeln gehört haben (ja lieber Leser, Sternschnuppen brutzeln manchmal, auch wenn das schwer zu glauben ist... man hört sie verglühen...wir sind Ohrenzeuginnen). Vielleicht können wir die Diskussion über Mostar und Literatur/Schreiben an Hand von ein paar Fotos noch nachholen. Stichworte könnten sein: "Kargheit", "lädiert", "erhaben". Zum Beispiel.

Du zitierst Ben Lerner "Hupen Sie, wenn Sie wünschten, alle schwierigen Gedichte wären tief". Das ist gut. Ich würde mir die von dir empfohlenen Gedichte gerne mal genauer angucken, ich bekomme leider zur Zeit weder Edit noch Bella. Sicher ist, dass Kompliziertheit in Gedichten oftmals eher dem Überdecken fehlender Tiefe dient. So erfolgreich, dass es vielleicht noch nichtmal dem Verfasser oder der Verfasserin auffällt. Von Steffen Popp, der Lerner übersetzt hat, habe ich schon einige eigene Gedichte gelesen, aus seinem ersten Gedichtband "Wie Alpen". Sie haben mir gut gefallen, sehr plastisch, übervoll mit Bildern, Vergleichen, man könnte das kritisieren, aber ich mag es. Zumal die Gedichte, die ich kenne, auch immer mal wieder witzig sind.
Soviel für heute, bis bald,

deine Sibylla

PS: Aufzählungen, ich liebe Aufzählungen!

Mittwoch, 4. August 2010

am wasser pflanzen

vom regen runtergedrückt warten sie
auf mehr regen oder die rückkehr der
schweren hitze die gleißendes licht
mitbringt und da zeitversetzt untropisch
helfe ich die oase zu nähren und
frisches grün erfrischt meine atmung
unter dem mikroskop

von der langen wärme niedrig braun
gelb umsäumt bleibt das ufer
ein ufer an dem ich tags
fast den nächtlichen sprung
auf das sauerstoffboot vergesse und
stille bewegung kühlt meinen blick
an dem magnet

Kind

Deine kleinen Hände sind perfekt.
Sie sollen Schaffell und Sand streicheln,
Park voll neuer Abenteuer

Von denen du schon träumst –
Nordseewellen, Kuhglocken,
Zarter

Strauch ohne Dornen,
Buch dessen Geschichten
Heiter und spannend sein sollen

Ohne diese genervten
Wortwechsel, diese kalten
Augen ohne Glanz.

(Thanks to Child by SP 1963)

Samstag, 24. Juli 2010

Liebe Sibylla,

durch deinen Brief habe ich noch mehr Lust auf den Besuch bei dir und unsere kleine Reise bekommen, zumal es hier jetzt nach der langen Hitze plötzlich wieder 13 ° kälter ist. Es ist immer so krass, wie schnell das gehen kann, so lange man permanent schwitzt, kann man sich gar nicht vorstellen, dass es je wieder aufhört und dann, zack, weiß man nicht, ob es diesen Sommer überhaupt noch mal heiß wird. Aber bei dir gibt es ja Hitzegarantie. Heute in zwei Wochen bin ich schon da. Und ich werde das Meer und die Berge sehen!

Hast du das Buch („Wie ich mich einmal in alles verliebte“ von Stefan Merrill Block), das du mir geschenkt hast, eigentlich auch gelesen? Es hat mir ganz gut gefallen, eine gute Geschichte, gut aufgebaut, skurril und mit interessantem medizinischem Background. Gut hat mir auch das Aufeinanderprallen der Welten zwischen der alten Farm und den Retorten-Häusern gefallen, wenn Abel mit seinem alten Pferd zum Einkaufscenter reitet. Den Titel der deutschen Übersetzung finde ich allerdings völlig irreführend, da es sich wirklich um „The Story of Forgetting“ und nur untergeordnet um eine Liebesgeschichte handelt. Die Figuren bleiben etwas blass, man wird gut unterhalten aber wenig bewegt.
Hast du eigentlich die Edit weiter abonniert? Ich habe mir ein Abo zum Geburtstag gewünscht und bekomme jetzt Bella und Edit. In der letzten Edit sind Gedichte, die ich cool finde. Von Ben Lerner, einem amerikanischen Lyrik-Dozent und -Redakteur, Jahrgang 1977, übersetzt von Steffen Popp (komischer Name!). Sie sind irgendwie grundlegend anders als die deutschen Sachen, die man so liest. Sehr dynamisch, schnell, radikal und lustig. Es gibt gleichzeitig viele Aufzählungen und viele kurze komplette Sätze. Die Grammatik ist klar und mit vielen Satzzeichen. Sprachelemente werden mit persönlichen Handlungen kombiniert, zuviel Theorie veralbert, wobei ihre Beherrschung auch deutlich wird und es gibt einige Appelle wie: „Ich wünschte, alle schwierigen Gedichte wären tief. / Hupen Sie, wenn Sie wünschten, alle schwierigen Gedichte wären tief.“

So trotz Wind und leichtem Regen gehe ich gleich zu einer Dach-Terrassen-Grill-Party und muss jetzt noch den Salat zu den vegetarischen Würstchen vorbereiten.

Bis bald,
deine Eva

Dienstag, 13. Juli 2010

Liebe Eva,

die Entschuldigungen für verspätete Antworten gehören zu jedem guten Briefwechsel - und so möchte auch ich als allererstes sagen: Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest. Du sprichst ja in deinem Brief das INVENT/TURA-Projekt an (ein Projekt zum Thema "Erinnerungen" mit 2 Künstlern und 2 Autoren aus Bosnien und Herzegowina) - es ist Ende Juni zu einem guten, aber naturgemäß auch zeitaufwändigen und leicht stressigen Abschluss gekommen. Und dann war da noch die Reise nach Heidelberg und das Seminar in Stuttgart, die mich vom Schreiben abgehalten haben...
So kommt es auch, dass ich, obwohl ich seit einem Jahr in Mostar wohne, meinen ersten Brief ausnahmsweise aus Deutschland schreibe, erst übermorgen werde ich zurück nach BiH fliegen, mit diesem kleinen langsamen Flugzeugchen, das Frankfurt am Main und Sarajevo verbindet. Eva, Deutschland ist so blass. Das meine ich ganz wörtlich. Auch bei blauem Himmel und ungewöhnlich sommerlichen Temperaturen. Ich vermisse mein Gastland schon so, alles wirkt lebendiger dort. (In Berlin fällt das nicht so auf, in der nach wie vor erträglichsten Stadt Deutschlands, wie ich finde.) Ich hoffe, du wirst verstehen, was ich meine, wenn du mich im August in Mostar besuchen kommst.
Ich will dabei nicht verschweigen, dass ich - nach einer naiven Freude und Zuneigung, die die Stadt im Süden BiHs beim ersten Besuch in mir ausgelöst hat (mittels Grillenzirpen, grünem Neretva-Wasser und weißem Stein) mehrere Monate um eine gute Beziehung zu Mostar ringen musste. Denn die Stadt ist entlang einer Linie aus zerschossenen Häusern und gegenseitigen Beschuldigungen und ziemlich berechtigter Angst in einen muslimischen und einen katholischen Teil geteilt. Alles ist polarisiert dort und das, gelinde gesagt, nagt täglich an den Nerven.
Als ich mich im Jahr 2001 oder so für ein Komparatistik-Seminar zu zeitgenössicher Literatur aus Ex-Jugoslawien angemeldet habe, hätte ich bestimmt nicht gedacht, was daraus alles an verbindlichem Interesse und persönlicher Erfahrung entstehen würde. Erst in den letzten Monaten ist mir klar geworden, dass ich mich den Orten, die mir wirklich etwas bedeuten, ausnahmslos über die Literatur angenähert habe. Das sind bis jetzt Berlin, Sarajevo, Mostar und Istanbul. Als ich im April das erste Mal in Istanbul war, hätte ich die Bücher mit Kurzgeschichten und historischen Informationen nur so verschlingen können und das Gelesene hat sich sofort symbiotisch mit dem verbunden, was ich auf meinen Ausflügen und Stadtbummeln aufnehmen konnte.
Schade, dass mich meine Deutschlandreise diesmal nicht in die Hauptstadt geführt hat und wir uns daher nicht treffen konnten. Aber bald, bald besuchst du mich in dem "schöneren Land"! Darauf freue ich mich schon...
deine Sibylla

Donnerstag, 10. Juni 2010

Liebe Sibylla,

ich freue mich, dir heute den ersten Brief zu schreiben und bin auch ein bisschen aufgeregt. Ich habe dafür in den letzten Wochen schon in meinem Kopf gesammelt. Also gut, dass es jetzt losgeht!
Wie du siehst, habe ich die Linkliste um ein paar Blogs ergänzt. Es sind allerdings nur sehr wenige, was daran liegt, dass ich insgesamt nicht viele gefunden habe und davon konnte ich höchstens mit einem Drittel was anfangen. Ich frage mich, ob das an den Suchmaschinen liegt, oder ob es wirklich so wenig gute gibt. Bei uns habe ich auch keine Möglichkeit gefunden, Tags wie Lyrik, Literatur und Blog einzugeben.
Neulich ist es auf der Post zu einer lustigen Begebenheit gekommen. Ich habe ein Päckchen abgeholt, wegen dem ich schon mal spontan, ohne Abholkarte da war, und das dann nicht gefunden wurde. Dieses Mal hat es auch gedauert und war am Ende doch an seinem Platz. Was jetzt genau das Problem war, keine Ahnung. Auf jeden Fall, als das Päckchen dann vor mir lag, guckte ich nach links. Dort, derselbe glänzende rote Aufkleber, hm, dachte ich, ist das Standard? Das Päckchen hatte aber auch dieselbe Größe, dieselben zwei Briefmarken mit pinken Blumen. Das veranlasste mich laut, häh, zu sagen und mich rüberzubeugen, um einen Blick auf den Absender zu werfen. Ich sagte zu der etwa gleichalten symphatischen Frau, wir haben ja genau dasselbe Päckchen. Sie und die Postbeamtin lachten und meinten, das hätten sie auch gerade gemerkt. Es war das neue AutorInnen-Handbuch von Uschtrin. Sie sagte dann noch, dass sie es das erste Mal bestellte habe, ich, ich auch.
So jetzt ist der Brief schon so lang, dass ich die anderen Sachen aufhebe, falls mir mal nichts Aktuelles einfällt.
Ich hoffe, bei eurem Invent/Tura-Projekt läuft alles glatt und ich höre bald von dir.

Viele Grüße aus dem (endlich) schwülen Berlin,

deine Eva

Dienstag, 8. Juni 2010

Die Taubheit die Wut ist

da steht ein Haus am Rand eines Dorfes
hat ein angeschrägtes Flachdach und einen
baufälligen Holzbalkon besser nicht zu betreten
innen ein erster Stock der halb ist wie auf einer
technischen Zeichnung zu Anschauungszwecken seziert:
halbes Haus halb erträumt die frühe Vertreibung von dort
wo ich etwas von mir im Garten hinterließ vielleicht einen
durch eine Milchzahnlücke gespuckten Kirschkern – oder
vielleicht war es doch ein Zahn ein Arm eine Herzkammer
vielleicht war es mehr: das häufige Heulen diese ewige Angst
das In-die-Hose-Machen die Lust auf Süßes halbe Kaugummis
bespeichelt von mir keimen in der Erde meine Klage wächst
mein Hals juckt mein Knie juckt meine Wange juckt
nicht kratzen du sollst nicht kratzen mein erstes Gebot
Haus am Waldweg der Weg zum Wald mit Kamillenblumen
an seinen Rändern wir Kumpels liebten ihn wir kochten Tee
ich fühle eine Sehnsucht die an dem vorbeigeht
was das Haus jemals war ich fühle die gekappte Verbindung
die Klage die Taubheit die Wut ist

Paradiesgärtlein

mein Utopia hat viele Kräuter es riecht gut
liegt in Mauern auch Rapunzel wächst dort
auch ist der Rasen gepunktet von Gänseblüm-
chen. in ihm erfahre ich von Jahren die wie
Honig fließen langsam und köstlich ich fühle
den Widerspruch der glatten Frucht an meiner
Wange zu dem porigen Stein den ich streichle
zu dem schleimigen Film einer Schnecke zu
der keiner Berührung standhaltenden kalten
Haut des Wassers zu dem Kitzel von Fliegen-
beinen in der Armbeuge und ich stimme ihm
zu. heiter vertieft mich das langsame Studium
rückt mich körperlose Schrift noch tiefer in es
hinein in mein Gärtlein dies mit hohem Ein-
satz errungene Stückchen für das ich jeden
einzelnen Stein selber herbeischleppte auf
meiner Zunge das war in keinem Märchen
keiner Legende das ist: eine wahre Begeben-
heit harte Arbeit die sich stets neu ereignet
an meinem würzigen Nähr- meinem würzi-
gen Lustgarten mit der zahnweißen Pforte

kein weicheres omen

nach einer woche eisernem verweilen
zeichnet der schnee reime wo
noch wiese, meer schon bald
die oberflaeche bildet
ist es wirklich noch meer, wie es
sich da aufeinanderschiebt?
ich zaehle kalte berge und tuerme
und moewenschreie es gibt
kein weicheres omen

Beschwörung

(Zu David Grossmann 2010)

Auf der Flucht der Flucht vor den Nachrichten die
die eine persönliche die nackte unversöhnliche
enthalten könnten wandern sie durch Galiläa sie
eine Frau und ein Mann deren gemeinsamer Sohn
ist ihm unbekannt gegen seinen Tod an erzählt sie
die Wanderung strengt auch mich an viele Schichten
gut geschildert aber die Proportionen sie
passen nicht mehr so der dialogische Epilog
im Fieberwahn schürt Erwartungen an eine Form die
ihre Vollendung schuldig bleibt irgendwo
das Ende geht dann doch zu schnell weil sie
so manche Einzelheiten auf der Stecke verloren
gingen in der steinigen Ödnis aus der die
braune Hündin tritt auch ohne den Krieg wird
eine Familiendreiecksgeschichte aufgeladen die
zu erwartende Eifersucht bleibt aus und verstörend
ohnehin schwierige substantielle Situationen sie
werden durch Sex bei dem viel geredet wird erleichtert
andererseits gesteigert zur Unerträglichkeit die
politische Ausgewogenheit und private Mystik verstören
nah an Israels Natur

Nervenblinken

Die einzelne Flasche wird zur Spur eines Gelages
zusammen mit den Socken und der Käserinde zur Geste

Das Warten auf den Umschlag aufzublinken unten zwanghaft
schnell kommend und gehende Gedanken kratzen im Kopf
das Blut drückt von innen gegen die Haut

Die angestrebte Auflösung ist verhindert
zu stark gewünscht von falschen Worten vertrieben
aufsteigende Ohnmacht kann Essen nicht schlucken

Nebel für Berlin

Gestern las ich eine Geschichte
über Nebel in Niederschlesien
da fiel die lange Abwesenheit
von Nebel mir auf
Nur verschwommene Erinnerungen
zu städtisch Berlin scheint
zu weit weg vom Meer zu sein
Städtischsein allein reicht nicht
in San Francisco und Tel Aviv
gab es das Phänomen
Aber nicht den Satz verdienend
„Ich konnte meine eigene Hand
vor Augen nicht sehen“
So Nebel gab es früher, Ferndorf
meistens morgens, Kindheitsort
Nebel sind nicht eigentlich schön
Nicht wie Regenbogen
eine Versöhnungsgeste
eher eine Gesichtsmaske
die gelegentlich aufzulegen
Spaß machen könnte