Montag, 19. Dezember 2011

Es riecht nach Schnee...

Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
so schön und rot vor meiner Fensterscheibe;
wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe,
wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt,
und niemand wärmt dann meine kalten Finger.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger
und kommen sicher auch zu meinen Schwestern.
Ein wenig bin ich trauriger als gestern,
doch lange nicht genug, um fromm zu sein.
Den Apfel nähme ich wohl gern herein
und möchte heimlich an der Schale riechen,
bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt.
Das Wiesel duckt sich wild und aufgeschreckt
und wird vielleicht nun doch zum Nachbar kriechen,
weil sich mein Herz so eng zusammenzieht.
Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?
Den Apfel hat schon jemand weggenommen …
Doch eigentlich ist meine Stube gut
und wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee.
Mir tut auch nur der halbe Schädel weh
und außerdem geht jetzt in meinem Blut
der Schlaf mit einer Blume auf und nieder
und singt für mich allein die Sternenlieder.


Gedicht von Christine Lavant


Christine Lavant (eigentlich Habernig, geb. Thonhauser) *1915 in Groß Edling, gestorben 1973 in Wolfsberg (beides Kärnten, Österreich), aus einer armen Bergarbeiterfamilie stammend, veröffentlichte zu Lebzeiten mehrere Gedicht- und Erzählungsbände. In ihren Texten greift sie auf volkstümliche Motive zurück, die ihr als Basis einer komplexen poetischen Symbolik dienen. Immer wieder drehen sich ihre Texte um die Themen Tod, Geburt, Hoffnung und "Unheimlich-Heiliges". Deshalb erscheint dieses Jahr im Dezember, passend zur Adventszeit, mit "Es riecht nach Schnee..." ausnahmsweise ein Gedicht, das nicht von einer Gegenwartslyrikerin stammt. Das Thema "Verortungen" spielt für Lavant, die sich als Autorin nach ihrer Heimatgegend, dem Lavanttal, benannt hat, eine entscheidende Rolle. Die unzertrennliche Verbundenheit mit ihrer Heimatgegend war für sie Fluch und künstlerisches Material zugleich.