Montag, 13. September 2010

Liebe Eva,

die rauhe, etwas ungehobelte Atmosphäre Berlins fällt mir auch immer als erstes auf, wenn ich die Stadt nach einer Zeit der Abwesenheit wiedersehe. In Straßenbild und Umgangston. Allerdings glaube ich nicht, dass es - im Verhältnis zur Einwohnerzahl - in Berlin mehr Verrückte gibt als in Mostar. Hier schlummert die Verrücktheit vielleicht etwas besser verborgen unter der Oberfläche. Beide Städte sind ganz gute Schulen im Umgang mit menschlicher Unberechenbarkeit.

Nachdem du in deinem Brief einige Parallelen zwischen Berlin und Mostar gesehen hast, fallen mir immer mehr davon auf. Das Nebeneinander von wild und rausgeputzt, schön und hässlich, das du erwähnst, ist eine davon. Auf den Fotos, die du ausgewählt hast, kann man das erahnen. Auch wenn man auf dem ersten Bild nicht sieht, wieviele Ruinen noch in der abgelichteten Straße, der Tito-Straße, stehen und wie nah diese an der perfekt wiederhergestellten Altstadt liegt, mit der alten Brücke in der Mitte, von der das zweite Foto aufgenommen ist. Auf dem dritten Bild die orange-rot-gestreiften Ruinen des geschichtsträchtigen Hotel Neretva. Daneben ein frisch wieder hergestelltes und frisiertes Gebäude, einst für Tito gebaut, falls der mal zu Besuch kommt, heute ein Einkaufszentrum mit Café und Club im Erdgeschoss.

Versehrtheit habe ich als einen möglichen Ausgangspunkt für Schreibprozesse in meinem letzten Brief erwähnt. Versehrtheit ist wesentlicher Aspekt von Mostars Ausstrahlung. Sie irritiert und lässt mich inne halten und nach Worten suchen. Wahrnehmungsgewohnheiten werden unterlaufen und ich denke das ist eine wesentliche poetische Qualität der Stadt. Zudem ist Versehrtheit, so materiell sie sich in Mostar zeigt, etwas sehr Allgemeines oder leicht auch im emotionalen, individuellen Sinne Verallgemeinerbares, etwas, was in der Literatur prinzipiell eine große Rolle spielt.

Ja, ich kenne Tanja Stupar-Trifunović, ich habe sie für eine Lesung zum Thema "Erinnerungen" im Juni zusammen mit Jan Wagner nach Mostar eingeladen. Sie reiste mit ihrem Bruder aus Banja Luka an, wir haben zu dritt Kaffee getrunken und uns dabei auf "Serbisch-Bosnisch" unterhalten, gemäß meiner Sprachkenntnisse war das kein tiefgründiges Gespräch, aber es hat mir viel Spaß gemacht. Tanjas Gedichte schätze ich sehr, sie kombinieren Trauriges und Lustiges auf einmalige Weise und sind manchmal ein bisschen provokativ, niemals langweilig. Man merkt ihnen an, dass Tanja auch als Journalistin aktiv ist, mit einem scharfen Blick für gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen. Wenn sie von ihren Erfahrungen mit dem Krieg in den 90ern schreibt, dann niemals mit einer Betroffenheitsgestik, eher trotzig und auf den Punkt gebracht. Zum Beispiel in ihrem Gedicht "Das Haus": "Ich ging um das Haus zu sehen / Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin / Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind / das sein Haus verlor / mir war überhaupt nicht traurig zumute"... Von Faruk Šehić habe ich Kurzgeschichten gelesen, auch er ist empfehlenswert, man kann auf den Seiten von "traduki" etwas über und von ihm lesen: http://www.traduki.eu/

Gibt es Herbstmüdigkeit? Ich glaube schon. Muss ins Bett. Gute Nacht und bis bald!

Sibylla