Montag, 19. Dezember 2011

Es riecht nach Schnee...

Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
so schön und rot vor meiner Fensterscheibe;
wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe,
wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt,
und niemand wärmt dann meine kalten Finger.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger
und kommen sicher auch zu meinen Schwestern.
Ein wenig bin ich trauriger als gestern,
doch lange nicht genug, um fromm zu sein.
Den Apfel nähme ich wohl gern herein
und möchte heimlich an der Schale riechen,
bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt.
Das Wiesel duckt sich wild und aufgeschreckt
und wird vielleicht nun doch zum Nachbar kriechen,
weil sich mein Herz so eng zusammenzieht.
Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?
Den Apfel hat schon jemand weggenommen …
Doch eigentlich ist meine Stube gut
und wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee.
Mir tut auch nur der halbe Schädel weh
und außerdem geht jetzt in meinem Blut
der Schlaf mit einer Blume auf und nieder
und singt für mich allein die Sternenlieder.


Gedicht von Christine Lavant


Christine Lavant (eigentlich Habernig, geb. Thonhauser) *1915 in Groß Edling, gestorben 1973 in Wolfsberg (beides Kärnten, Österreich), aus einer armen Bergarbeiterfamilie stammend, veröffentlichte zu Lebzeiten mehrere Gedicht- und Erzählungsbände. In ihren Texten greift sie auf volkstümliche Motive zurück, die ihr als Basis einer komplexen poetischen Symbolik dienen. Immer wieder drehen sich ihre Texte um die Themen Tod, Geburt, Hoffnung und "Unheimlich-Heiliges". Deshalb erscheint dieses Jahr im Dezember, passend zur Adventszeit, mit "Es riecht nach Schnee..." ausnahmsweise ein Gedicht, das nicht von einer Gegenwartslyrikerin stammt. Das Thema "Verortungen" spielt für Lavant, die sich als Autorin nach ihrer Heimatgegend, dem Lavanttal, benannt hat, eine entscheidende Rolle. Die unzertrennliche Verbundenheit mit ihrer Heimatgegend war für sie Fluch und künstlerisches Material zugleich.

Dienstag, 15. November 2011

mappa

was ist der wohnort? der wohnort ist
eine kreuzzehn. was ist die kreuzung?

in der verkorksten mundart der wälder
ist die kreuzung das wort baum. warum

spielen heimatländer in den lüften karten?
niemand hat die länder je nach hause gehn

sehn. ein baum im wald der nähesprache
ist im kartenspiel die zehn. aus seinem holz

werden auf der karte kreuze gemacht.
die länder tragen hier ihren wohnort ein,

dann legen sie die feder ins mäppchen
zurück. was ist ein mäppchen? zurück.

mit nelly sachs

Gedicht von Uljana Wolf


Uljana Wolf *1979 in Berlin, lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in Berlin und Brooklyn. Für ihre beiden bisher veröffentlichten Gedichtbände spielen sprachliche und räumliche Verortungen eine wesentliche Rolle. In "kochanie ich habe brot gekauft" (2005) besonders in Hinsicht auf die deutsch-polnische Beziehung und in "falsche freunde" (2009) in Hinsicht auf den deutsch- und den englischsprachigen Raum. Im poet mag 10 wurde sie von Jan Kuhlbrot zum Thema Schreiben und Orte interviewt, hier nachzulesen: http://www.poetenladen.de/jan-kuhlbrodt-uljana-wolf.htm.

Montag, 7. November 2011

Liebe Eva,

heute ist der erste richtig regnerische Tag in Mostar, der voraussichtlich eine lange Reihe von Regentagen einleiten wird, an denen es zwar nicht kalt, dafür aber draußen richtig ungemütlich sein wird. In unserer neuen Wohnung haben wir einen Ofen und wenn es auch noch den ganzen Tag lang ein bisschen blitzt und dauerdonnergrummelt ist es hier drinnen schön gemütlich. Trotzdem bin ich froh, dass die Zeit des Frierens und Sonnenentzugs jetzt erst so langsam anfängt, denn das Schlimmste am deutschen Winter ist ja, dass man Anfang Februar schon vier triste Monate hinter sich hat und immer noch nicht wirklich ein Ende in Sicht ist. Die saisonbedingte Verstimmung hält sich dadurch mit etwas Glück in Grenzen. Ich freue mich schon sehr auf deinen Besuch in zwei Wochen und finde es auch gut, dass du Mostar diesmal zu einer ganz anderen Jahreszeit, von einer ganz anderen Seite kennenlernen wirst. Wenig Touristen, vielleicht mit Dauergewittern und Wolken, die unbewegt in den Bergen hängen und die Welt ganz klein werden lassen.
Meine Lektüren in der letzten Zeit sind spärlich, was nicht nur daran liegt, dass ich hier mit Büchern, v.a. natürlich mit Büchern auf Deutsch, schlecht versorgt bin. Wenn ich mal eine Minute Ruhe habe, surfe ich im Internet oder gucke einen Film, weniger aus einem Interesse heraus als aus einer stupiden Lust auf Unterhaltung ohne Anstrengung (von der Beliebtheit gut gemachter Fernsehserien habe ich in letzter Zeit schon gehörte, aber mich bis jetzt selber noch keiner gewidmet. Kannst du mir eine zum Einstieg besonders empfehlen?). Schöner ist jedoch immer, ein Buch zu lesen. Das Gefühl, sich sinnvoll beschäftigt zu haben und auf neue Gedanken gekommen zu sein bleibt. Im Prosaheft der Edit vom Frühjahr habe ich noch einmal herumgeblättert und den Essay von Norbert Hummelt ein zweites Mal gelesen, ihn wieder gemocht in seinem Understatement. Und die These, dass Lyrik schreiben besser für das seelische Gleichgewicht ist und die Arbeit am Roman zu Depression und Selbstmord führen kann, ist doch recht ungewöhnlich. Der Lyriker Hummelt wendet so jedenfalls geschickt den Ratschlag zum Roman ab, denn eine solche Verantwortung möchte natürlich niemand auf sich laden.

Noch immer Regen und über dem Fluss fliegen Möwen hin und her.

Bis bald,
Sibylla

Sonntag, 23. Oktober 2011

Grobkörnig, mit Herodot

Das Licht ist grobkörnig, wie
verstreut. Vielleicht lässt es sich
finden in tieferen Schichten. Sie
aber bleibt bei sauberen Händen
nimmt höhere Empfindlichkeit
und geht auf Abstand. Anstatt
sich anzusprechen, küssen sie sich
auf den Mund. Das kann sie
einfangen, das ist gut für heute.


von Adrian Kasnitz

Adrian Kasnitz * 1974 lebt als Schriftsteller und Herausgeber (parasitenpresse) in Köln. Zuletzt veröffentlichte er den Band "Schrumpfende Städte" (Luxbooks, Wiesbaden 2011), der auch das Gedicht oben enthält. Alles weitere hier http://www.luxbooks.de/autoren/adrian-kasnitz.

Montag, 10. Oktober 2011

Spaziergang

Vor dem Fenster bleibt er stehen
Hinter der Scheibe eine weitere Scheibe
In splittriges Gold gerahmt
Zunächst gemischtes Grün zu sehen
Dann entdeckt er Blüten blass getarnt
Ein schmaler Wasserlauf rauscht
Von einem Baum guckt
Das Augenpaar eines Orang-Utans
Ein Blick wird ausgetauscht

Ihm wird gewahr was lang latent war
Seit Stunden stört das Brummen
Eines klein kreisenden Hubschraubers
Die sonntägliche Stille
Zwischen den hohen Häuserzeilen
Fühlt er sich beim Spazieren
Wie ein gejagtes Tier

Sonntag, 18. September 2011

    diese sich neigenden Gräser /
NATURA EROTICA. alles schwimmt
    und das Wort Diplomatie
drängt sich auf. auch für diesen Nachmittag:
    1–2 Brisen Wind
bei diskreten achtzehn, neun-
zehn Grad
...

von Thien Tran

Thien Tran * 1979 in Ho Chi Minh-Stadt, † 2010 in Paris lebte länger in Köln und veröffentlichte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.  2008 erhielt er den Lyrikpreis beim Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin. Sein Buch „Fieldings“ erschien 2009 beim Verlagshaus J. Frank. Mehr auf http://www.poetenladen.de/thien-tran.htm

Freitag, 9. September 2011

Liebe Sibylla,

die Sache mit den Todesanzeigen ist faszinierend. Sie sind mir, als ich dich letztes Jahr besucht habe, auch besonders aufgefallen. Ich finde es eigentlich sehr angemessen, die ganze Stadt für eine Weile damit zu tapezieren. Nur in der Zeitung, vielleicht in nur einer, einen Tag, das geht ja total unter. Nach so einem ganzen Leben darf die Verabschiedung schon etwas länger dauern. Der unterschiedliche Umgang mit Tod wird auch in der US-amerikanischen Fernseh-Serie „Six Feet Under“ thematisiert, mit der ich gerade angefangen habe. Ist der Serien-Hype eigentlich auch in Bosnien angekommen? Hier werden sie jetzt wie Filme diskutiert. Diese aufwendig produzierten, anspruchsvollen Serien sind zu einem eigenen Genre geworden.

Auf die Bücher, die du mir in Aussicht gestellt hast, bin ich schon gespannt. Du brauchst sie aber nicht extra zu schicken. Ich komme ja noch dieses Jahr, um deinen Sohn kennen zu lernen, yuhuu!

So noch ein paar Lektüre-Eindrücke: „Adler und Engel“ von Juli Zeh fand ich gut, aber auch ein bisschen zu überspitzt, bemüht. Der Haupteindruck war das sehr Körperliche. Interessant finde ich, wie Zeh ihr Rechtswissen eingebaut hat. Houellebecq, „Karte und Gebiet“ gewohnt düster, hart und desillusionierend, aber so konsequent, intelligent und lustig, dass man sich gern darin suhlt. Besondere Pointe: er selbst und Frédéric Beigbeder sind Figuren. Jonathan Franzens „Freedom“ ist richtig gut – super Figuren, sehr unterhaltsam und lebendig, beeindruckende Gesellschaftsanalyse. Man hätte es bestimmt auch kürzer erzählen können, aber die Details machen so viel Spaß, dass man sie nicht missen möchte, im Gegenteil, man will die Figuren eigentlich nicht gehen lassen. Gerade lese ich „Great House“ von Nicole Krauss, das auch gut ist, aber nach Franzen etwas abfällt. Es ist mir noch zu dramatisch verdichtet. Außerdem gab es am Anfang eine Irritation mit dem Buch an sich, die sich langsam legt. Es roch schlecht. Neu von Amazon. Das habe ich echt noch nie erlebt und es ist total störend. Es ist kein starker Geruch, aber unangenehm. Bevor ich ihn geortet habe, dachte ich kurz, es läge eine tote Maus unterm Bett.

Hm, jetzt habe ich mit Tod angefangen und aufgehört und das obwohl du doch gerade so frisch mit seinem Gegenteil verbunden bist…

Viele Grüße nach Mostar

deine Eva

Samstag, 27. August 2011

KLEINÖD


asymmetrisch vom morgen
stakst die poetin durch
die von pflichttätern
sporadisch durchzuckten gassen

liest tragische küche und wittert
nach der geeigneten lücke
zum parken des to-go-brötchens
im mund von gebläsehotels

stocken blechherden sausen
wohin wohin, fragt sie, wenn
der hunger auf wiesen verpackt ist
in fliesen und dekorläden

sie imitiert den schritt
der zielhaber, memoriert:
christos ist fotomodell
und kleinöd nennt sich city

the cloudspeaker whispers hier
geht’s zur leistungspizza!

und nur ein vorbeigejoggtes
junges sieht durch ihr lächeln

das törichte lechzen nach


von Karin Fellner


Karin Fellner * 1970 in München hat Psychologie in Konstanz sowie Literaturwissenschaften in München studiert und arbeitet dort als Autorin, Schreibcoach und Lektorin, unter anderem in Projekten des Lyrik Kabinetts und des Literaturhauses München. Für ihre Lyrik erhielt sie verschiedene Preise: 2005 den Förderpreis beim Leonce-und-Lena-Wettbewerb in Darmstadt, 2006 den Förderpreis für Lyrik der Internationalen Bodenseekonferenz und 2008 den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften sind bislang drei Gedicht-Einzelbände erschienen, zuletzt "hangab zur kehle" (yedermann Verlag, München 2010). 

Donnerstag, 18. August 2011

Liebe Eva,

gestern und heute zwei Hinweise darauf, dass ich langsam zur wahrhaftigen Mostarerin werde. 1. ich erschrecke nicht im Geringsten, wenn unsere Katze eine riesige Heuschrecke anschleppt (mindestens von der Größe eines Teelöffels), sondern nehme sie ihr einfach weg und entsorge sie ohne mit der Wimper zu zucken, 2. ich fange an, Todesanzeigen zu lesen. Das Interesse daran, wer wann woran gestorben ist, ist hier sehr groß und kommt niemandem morbide vor. Sondern eben normal. Man checkt morgens als erstes seine Facebookseite und eben mal schnell im Netz, wer so Neues gestorben ist. Todesanzeigen werden stets Din A 4 gedruckt und in der ganzen Stadt verteilt - und handelt es sich um einen interessanten Tod, etwa einen Jungen, der in der Neretva ertrunken ist oder einen Selbstmord - muss man manchmal anstehen, um einen Blick auf den Aushang ergattern zu können. Darauf ist ein Foto zu sehen und die Lebensdaten; auch die Beerdingungszeiten stehen meistens darauf und die Abfahrtszeit des Busses zum Friedhof, den die Familie für die Trauergäste bestellt hat. Kommen kann jeder, der sich berufen fühlt, eine große Trauergemeinde ehrt traditionell die Toten und deren Familie. Auch bei Trauerblättern gibt es natürlich die allgegenwärtige "ethnische Differenzierung", Christen bekommen ein Kreuz und einen schwarzen Trauerrand, Muslime einen Mond und einen grünen Trauerrand. Interessanterweise gibt es in diesem Genre auch noch Atheisten, bzw. Kommunisten, die haben dann einen Stern und eine rote Umrandung (aber auch nur hier, im Tod, darf manchmal vom christlich-muslimischen Gegensatz abgesehen werden, ansonsten wird er ja ausnahmslos angewendet zur Verortung einer Person, egal ob diese religiös ist oder kommunistisch oder esoterisch oder was auch immer).

Etwas anderes: Neulich bin ich auf die österreichische Literatur- und Kunstzeitschrift "Lichtungen" gestoßen, in deren neuester Ausgabe auch Vesna Lubina, unser Gastbeitrag vom Juni, vertreten ist. Der Blick nach Österreich lohnt sich immer, gerade wenn man ein Interesse am Balkan hat, der dort durch seine einflussreiche Wiener Diaspora sehr präsent ist. Ein kontinuierlicher Schwerpunkt der Lichtungen ist dann auch südosteuropäische Literatur, dieses Jahr besonders der Kosovo, dessen kleine zeitgenössische Szene ich, seit dem Polip-Lyrikfestival in Pristina im letzten Herbst, interessant finde. Kürzlich habe ich zusammen mit Lucia Zimmermann, die ja auch das Festival initiiert und organisiert hatte, einen bosnisch-kosovarischen Autorenaustausch mit den jungen Autor/innen Lamija Begagić aus Sarajevo und Imer Mushkolaj aus Pristina durchgeführt. Die beiden haben einen Essay über ihre Begegnung geschrieben, der ins Deutsche übersetzt wurde und zusammen mit weiteren Essays publiziert werden wird. Mit Lamijas "bosnischem" Text trainiere ich gerade ein bisschen meine Sprachkenntnisse - auf die Gesamtpublikation auf Deutsch bin ich derweil schon sehr gespannt. Ich halte dich auf dem Laufenden, vielleicht muss ich dir einmal die ganzen kleinen Publikationen, an denen ich hier beteiligt bin (z.B. auch den Polip-Band und die Publikation zu zeitgenössischer Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina) und die man in Deutschland nicht so einfach bekommt, gesammelt schicken. Ich mache es, wenn ich den Essay-Band auch habe.

Liebe Grüße aus dem heißen Mostar,
Sibylla

Samstag, 23. Juli 2011

ein gedecktes viertel basar

dass du mich suchst in den animierten stoffen
                                      in den werkstätten für
gefälschte leguane vielleicht siehst du mich
einen armreif entlang huschen
wo begrenzte zweifel in die zeit gedrechselt
und einen hand gewebten sesamkringel
zwischen den zähnen
das verstaubte mundstück einer wasserpfeife
schau nach in den gewürzherbergen
                              den labyrinthen aus schwestern
und drapierten brüdern ich fliese dir wandhoch
einen weg
aus iznik-kacheln
                                         als lastenträger baufälliger
himmelskörper


von Achim Wagner


Achim Wagner *1967 in Coburg, lebt als freier Autor in Köln und Ankara. Seit April 2011 moderiert er (gemeinsam mit Nico Sandfuchs) eine regelmäßige Reihe von Literaturgesprächen im Goethe-Institut Ankara. Mehrere literarische Auszeichnungen, so in 2009 das sechsmonatige Istanbulstipendium der Kunststiftung NRW. Als letzter Einzeltitel erschien 2011 sein Gedichtband "flugschau" im [SIC] – Literaturverlag (http://tubuk.com/book/flugschau).

Donnerstag, 16. Juni 2011

im übersiedelungsjahr

wie groß die tiere
auf der anderen seite sind:

trinken das zuckerwasser der melonen,
reiben sich am geräteschuppen

manches gras stand dir bis zum hals
mit diesen echsen schulter an schulter
schien dir jedes züngeln

wie in die wiege gelegt
die verarmte mütter vom ufer stoßen
damit sie noch weit schwimmt



von Vesna Lubina


Vesna Lubina *1981 als Tochter bosnischer Immigranten in Witten an der Ruhr, lebt in Bochum und San Francisco. Sie studierte Philosophie, Literatur-Kunst-Medien, Religionswissenschaft und Literarisches Schreiben in Konstanz, Tübingen und New York. Sie veröffentlichte Gedichte in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien, zuletzt in BELLA triste 27. 2010 erhielt sie ein USA-Stipendium der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen.

Montag, 30. Mai 2011

Liebe Sibylla,

nachdem du dich im letzten Brief mit den gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schaffens im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr politischem Engagement aus dem Bella triste-Artikel beschäftigt hast, möchte ich was zu Genre-Fragen schreiben. Es verdichten sich nämlich Erlebnisse, die mit einer Rechtfertigung von Lyrik zu tun haben.

Dass Lyrik gesellschaftlich und im Buchhandel kaum präsent ist, ist ja sowieso offensichtlich. Obwohl man es auch manchmal vergessen könnte, wenn man sich etwas in der Szene bewegt, die ja wiederum sehr lebendig ist und viele gute Organe hat. Aber sie ist doch sehr abgeschottet und auch elitär. Die meisten Menschen haben weder strukturellen noch emotionalen Zugang zu lyrischen Texten. Man hat verlernt, etwas damit anzufangen. Daraus ergibt sich automatisch, dass man zur Botschafterin für Lyrik wird, sobald man sich ihr in irgendeiner Form widmet. So hat mich die Zweitbetreuerin meiner Dissertation darauf aufmerksam gemacht, dass ich spätestens bei der Verteidigung gefragt würde, warum ich mich überhaupt mit Lyrik beschäftige, das sei doch nicht zeitgemäß.

Diese Erfahrungen hast du bestimmt schon viel früher gemacht, weil du ja zum Beispiel schon deine Magisterarbeit über Lyrik geschrieben hast. Aber mir gefällt der Gedanke, alleine durch die Themenwahl zur Erhaltung dieses traditionsreichen und spannenden Genres beizutragen, das ganz andere sprachliche Möglichkeiten bietet als Prosa.

Liebe Grüße aus dem heute hochsommerlichen Berlin,

deine Eva

Sonntag, 15. Mai 2011

alles geordnet wie ein pfeilschwarm

die vögel die sich einsortierten aufflatterten
ihre geschwindigkeit mit ganz sichren flügeln
aufnahmen & dann in die rauten ihres
glasdachs – mein kopf lag wie von selbst
im nacken noch bevor das bild eintraf

dieser verzug mit dem bewegungen
sich in die muster einpassen – akkord
folgen in taktgitter gesperrt daran
lag es aber nicht – koinzidenz von knipsbild
& rhythmus die dumme vertraute idee

die von der seite kam im augenwinkel
unter den fahrtgeräuschen liegen blieb
murmel in der kuhle sanfte rotation
& dann perfekt frostüberzogen baum
-schulen – abgesprochen unvermutet

stöbern: fiese kleine geister


von Katharina Schultens


Katharina Schultens * 1980 in Kirchen, Rheinland-Pfalz lebt in Berlin. Sie hat Kulturwissenschaften in Hildesheim, St. Louis und Bologna studiert und arbeitet als Referentin im Bereich Forschungsverwaltung an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2004 erschien ihr Lyrikband "Aufbrüche" im Rhein-Mosel-Verlag und sie veröffentlicht regelmäßig Lyrik sowie poetologische Texte in Zeitschriften (u.a. bella triste, randnummer, ostragehege) und Anthologien (u.a. Lyrik von Jetzt II, Neubuch). Außerdem wurde sie unter anderem mit dem Georg-K.-Glaser-Förderpreis 2007 ausgezeichnet. Gerade ist ihr zweiter Lyrikband erschienen, "gierstabil" bei luxbooks. Mehr dazu hier http://www.luxbooks.de/buecher/gierstabil

Samstag, 30. April 2011

Liebe Eva,

der Begriff Bionadebiedermeier scheint sich wachsender Beliebtheit zu erfreuen, ich hatte ihn, trotz meiner Distanz zum deutschen Sprachraum, auch schon mehrmals gehört und nun kürzlich in der BELLA triste gelesen. Sein Reiz besteht in der Alliteration und seinem oxymoronischen Charakter, da Bio-Produkte bis vor einigen Jahren noch für eine alternative und fortschrittliche Lebensweise standen, das Gegenteil also von konservativem Biedermeiertum. In der BELLA triste 29 behauptet Paul Bodrowski, dass "die Gegenwartsliteratur primär von Klavierunterrichtnehmern und Bionadebiedermeier durchdrungen ist", also von Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Mittelschicht. Surprise! Sind doch mindestens bürgerliche Existenzbedingungen Voraussetzung, um sich mit Unterstützung, Zeit und Muße der Literatur widmen zu können. Die verbreitete, mehr oder weniger gefakte Autorenbiografie (welche Biografie ist nicht gefakt?) "hat sich als Mitglied einer Jugendgang, Gärtner, Kellner, Postbote... durchgeschlagen, bevor er sich als freier Schriftsteller etablierte", finde ich Kitsch, bürgerlichen. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen Kitsch.

In Bodrowskys Essay geht es in erster Linie darum, dass in gegenwärtiger deutschsprachiger Prosa der übermächtige Gegner eines repressiven Herrschaftssystems als dramatisches Element fehle. Bodrowsky ist der Meinung, dass das eben nicht an der freiheitlichen deutschen Gesellschaft liege, sondern daran, dass sich Autoren wie Figuren der Texte im Mittelschichtmilieu bewegen, in dem staatliche Repression und Existenznot wenig zu spüren sind. Da ist etwas dran... und trotzdem, nach fast zwei Jahren Mostar muss ich sagen, Deutschland geht es gut und es kümmert sich doch um alle ein bisschen. Es ist ein Unterschied, ob es um mehr oder weniger geht oder - wie hier - um nichts oder weniger als nichts. Es ist ein Unterschied, ob man sich als Mitglied einer breiten bürgerlichen Mittelschicht Gedanken über die Grenzen seines eigenen geistigen Horizonts macht, oder ob man in einem Land aufgewachsen ist, in dem gar keine einflussreiche Mittelschicht existiert. Von Vorteil für die Literatur ist das jedenfalls nicht.

Diese Überlegungen als Wort zum morgigen Tag der Arbeit. Der ist hier so beliebt, dass man, da er auf einen Sonntag fällt, gleich Montag und Dienstag mit als Feiertage ausgerufen hat. Wenigstens etwas fürs Volk.

Liebe Grüße,
Sibylla

Montag, 18. April 2011

Altweibersommer

Die Spinnweben
verfangen in ihrem Haar
flechten Sonnenstrahlen
zu einem perlmuttfarbenen
Schleier

Da war die Küche
sagt sie
händekreisend zu
einem Ofen formend
teigverklebte Fingerspitzen
lachen die letzten Sonnenstrahlen
aus

Da wo früher die Küche
jetzt die Spinnweben
zaghaft
Erinnerungen verschleiern
sagt sie

Da wohnt mein Kind
meine Seele
verkrustet
begräbt sie die Stille
verkriecht sich
in geflochtenem Stein.

Dorothee Baumann *1985 in Stuttgart, lebt in Mostar. Nach Studienaufenthalten in Münster, Lille (Frankreich) und Twente (Niederlande) unterrichtet sie heute als Lektorin der Robert Bosch Stiftung an der Universität Džemal Bijedić in Mostar Germanistik. Seit Januar 2010 gibt sie mit zwei KollegInnen des Lipa South East Europe Networks e.V. das Online-Magazin Post aus Südost heraus. www.postaussoe.de

Samstag, 26. März 2011

Liebe Sibylla,

ich freue mich dieses Jahr wieder sehr, dass der Frühling angefangen hat. In unserem Hof werden Sträucher gepflanzt, die natürlich noch etwas spärlich aussehen, aber kommende Wirkung andeuten. Es ist eine gute Zeit für Umbrüche. Im Büro sind meine letzten fünf Wochen angebrochen und einerseits kann ich mir gar nicht vorstellen, nicht mehr dort zu sein, andererseits freue ich mich auf die neue Aufgabe, die unter anderem mit mehr Freiheit verbunden ist. So habe ich die Hoffnung auf mehr Mußestunden. Zu dem Thema habe ich neulich auch ein kleines Gedicht geschrieben, das ich dir schon geschickt habe, aber hier nochmal einfügen möchte:

Halt, hiergeblieben

eine Verantwortung hat
süßen Speck mit Grübchen
und überströmende Augen
die ankommen wollen

emsig begangene Wege
nun breiter werdend
führen eventuell zum
ersten Auto und und und
die Muße dreht sich
winkend nochmal um

Über das Auto als Symbol für Unabhängigkeit und ein geregeltes Einkommen musste ich länger nachdenken. Auf eine Art finde ich das Bild nicht ganz zutreffend - davon abgesehen, dass es unoriginell und unlyrisch ist, weil ein Auto eigentlich Luxus ist und es erstmal schon als Erfolg gelten sollte, überhaupt finanziell unabhängig zu sein. Andererseits macht ein Auto als Anreiz mehr Spaß als das pure Überleben, auch wenn es der Beginn einer materiellen Spirale ist. Allgemein verliert das Auto als Statussymbol an Bedeutung, wie ich in der Agentur immer wieder höre. Ich selbst hätte trotzdem lieber ein  Auto als zum Beispiel ein Smartphone (hm, hinkt etwas, weil es nicht die gleiche Preiskategorie ist). Meine Kollegin spricht übrigens immer vom Bionade-Biedermeier, was ich für die heutigen 30- und 40-jähringen sehr passend finde.

Dir auch eine gute Mischung aus Muße und Mühe wünschend, grüßt

deine Eva

P.S. Danke für die Ermutigungen aus deinem letzten Brief!

Dienstag, 15. März 2011

Das Zeitalter der Entdeckungen

Als Kind begab ich mich
auf weite Reisen
fuhr an Küsten entlang
an Halbinseln und an Fjorden
umrundete mit dem Bleistift
Länder und Kontinente
zog auf Packpapier Grenzen nach
die wenig später
aus allen Karten verschwanden

Nie bekam ich das Meer zu Gesicht
entdeckte aber
kaum dass ich lesen konnte
den Salzgeschmack im Wort „Ozean“
watete an langen Nachmittagen
im Sommer
durch das Wort „Bucht“
wie durch eine Brandung
aus Schatten und Licht

Legte ich mich abends
von meinen Reisen heimgekehrt
müde ins Bett
so ließ ich mich treiben
auf geglätteten Wellen
weit hinaus in die Dunkelheit
bis zu jenem unbenennbaren Punkt
an dem Schlaf und Erwachen
einander berühren

von Christian Teissl


Christian Teissl * 1979 lebt in Graz. Er schreibt und veröffentlicht vorwiegend Lyrik (bisher vier Bände) sowie Aufsätze, Glossen und Feuilletons zu Themen aus Literatur, Politik, Film und bildender Kunst. Zusätzlich ist er als Herausgeber von Werken vergessener österreichischer Lyrikerinnen und Lyriker des 20. Jahrhunderts tätig. Mehr auf http://www.christianteissl.at. Besonders zu empfehlen ist sein Gedicht „Ein Mann“, das mittlerweile den Titel "Geschichte vom Doppelgänger" trägt. Es ist in dem dem Band „Die Blumenuhr“, Mitter-Verlag 2010 erschienen und auch online zu lesen unter http://www.poetenladen.de/christian-teissl-lyrik2.htm.

Mittwoch, 2. März 2011

Liebe Eva,

heute Nacht hat es in den Bergen wieder geschneit. Zwar sind in Mostar keine Minusgrade, aber es ist doch eisig, weil ein Wind durchs Tal fegt, den man hier "Babe=Omas" Wind nennt, angeblich nach einer Oma, die beim Schafehüten eingefroren ist. Meine Hoffnung auf einen baldigen Frühling bleibt trotzdem bestehen. Anders als in Berlin, wo ich oft - vielleicht beeinflusst von Szenen aus "Berlin Alexanderplatz" oder so - dachte, dass der Winter besser zur Stadt passt und ihren besonderen Charakter unterstreicht, hält Mostar regelrecht den Atem an, wenn es kalt ist. Die Leute wollen auf der Straße sein, gut aussehen, lange aufbleiben, sich über die Hitze beschweren, ans Meer fahren, Winter wird am besten ignoriert. Im Sommer wird die ungemütliche Kälte dann komplett vergessen und es heißt: Ach, wir haben hier ja nur einen ganz kurzen Winter, ne besondere Heizung oder Isolierung braucht man in Mostar doch nicht...

Ich finde auch, dass regelmäßige Treffen und Austausch mit anderen extrem gut fürs Schreiben sind. Auch weil es motiviert, Neues auszuprobieren, Texte zu überarbeiten, viel zu produzieren. Ich kenne diese Phasen, in denen der Wert der eigenen Texte als sehr gering erscheint, empfinde sie als sehr belastend. Es hemmt dann auch beim Weiterschreiben und allein das ist ätzend, da es einfach fehlt und ein so wichtiger, freudvoller Teil des Alltags zu verblassen scheint. Was deine Texte angeht, mag ich gerade die einfache, ungekünstelte Sprache sehr an ihnen und meistens führt das nicht zu Banalität, sondern zu Klarheit. Aber dass du darüber grübelst und zweifelst ist sicher nicht schlecht: Gerade weil es etwas Wesentliches an deinen Texten ist, ist es wichtig, dass du darüber reflektierst und den Grenzraum "Einfachheit - Konkretheit - Verständlichkeit - Banalität" immer wieder ausmisst. Ich habe ja stattdessen meine regelmäßigen Auseinandersetzungen mit der Kompliziertheit und Unverständlichkeit, die sich meiner Worte immer wieder bemächtigt.

Bei Christophe Fricker lese ich teils eine ähnliche Konkretheit wie bei deinen Gedichten, deshalb habe ich mir schon gedacht, dass dir seine Sachen gefallen. Mich freut besonders, dass das Gedicht von ihm bei uns erstveröffentlicht ist. Unser exklusives Blog...

Viele Grüße und sende bald mal per Mail neue Texte,

Sibylla

Montag, 21. Februar 2011

Liebe Sibylla,

danke für die zwei Versionen deines Gedichts. Mir gefällt, wie sich Tiefe und Leichtigkeit abwechseln und schwere Gedanken dynamisch daher kommen. Besonders gut gefällt mir der konkrete Einstieg mit dem Haar und dem Halbmond-Fingernagel. Das mit dem Ei ist lustig, aber vielleicht doch etwas gewollt. Du spekulierst ja auch, wie du wohl darauf kamst... Ich finde die Übersetzung gelungen, es geht nichts verloren und die letzte Zeile klingt sogar runder. Zur Titel-Übersetzung bin ich mir nicht sicher – „going“ ist besser als „travelling“, das ist zu einschränkend – vielleicht wären „On the road“ oder "Moving" auch eine Möglichkeit.

Unser letzter Gastbeitrag, das Gedicht von Christophe Fricker, gefällt mir sehr. Ich mag die Mischung aus konkreter Szenerie, kleiner Geschichte und originellen Beschreibungen. Ort und Gefühl sind gut nachvollziehbar. Ich hätte auch Lust, nochmal in einem Diner in Amerika zu sitzen. Auch wenn Abenteuerlust und Freiheit fremd und allein schnell in Trostlosigkeit umschlagen können, auch ohne Regen.

Bei meinen eigenen Texten habe ich gerade eine ziemlich selbstkritische, frustrierte Phase. Ich denke, es fehlt an einem durchgängigen Stil und vieles bleibt oberflächlich und willkürlich. Gebe mich von den eigenen Wörtern zu schnell beeindruckt. Man liest ja auch die eigenen Hintergedanken immer mit. Kann mich oft nicht entscheiden, ob etwas gut einfach, im Sinne von konkret, oder zu einfach, einfach einfallslos ist. In der Hinsicht fehlt mir der kritische Austausch, den wir im Schreibkurs hatten. 

Viele Grüße aus dem eisigen aber sonnigen Berlin,

deine Eva

Dienstag, 15. Februar 2011

Mistwetter und Elmo’s in Durham

Notizen auf einem durchgeweichten Briefumschlag

Draußen regnet es verbiestert.
Die Stadt mit den amputierten Armen
Kann sich die Hosenbeine nicht hochkrempeln.
Das Wasser legt sich auf den Rasen.
Irgendwann gibt es nur noch Heimwege.

Aber ich gehe allein in meinen Diner.
Das Gemüse heute kommt drauf an,
Die Suppe des Tages ist Schicksal.
Die Rechnung kommt gleich mit dem Essen,
Als ginge es Zahn um Zahn.

Draußen vergeht mir bald die Widerborstigkeit.
Die nasse nächste Ampel macht sich wichtig.
Der Fahrradfahrer glaubt, er hätte eine Chance.
Ich stimme einen Sprechchor an,
Nur innerlich natürlich, und fordere,

Daß morgen alles besser wird.


Christophe Fricker hat von 2006 bis 2010 in Durham, North Carolina, gelebt und Deutsch unterrichtet. Elmo’s war sein Lieblingsrestaurant. Sein Gedichtband "Das schöne Auge des Betrachters" erschien 2008 im Verlagshaus J. Franck in Berlin. 2009 erschien Frickers Buch "Larkin Terminal", eine Sammlung von 12 Porträts von Menschen und Orten auf verschiedenen Kontinenten. Im Januar 2011 leitete Christophe Fricker in Mostar, Bosnien und Herzegowina, einen Lyrik-Workshop für Studierende der Germanistik.

Montag, 7. Februar 2011

Liebe Eva,

gestern habe ich ein melancholisch-lustiges Gedicht von mir gefunden, das auch zu unserem Blog-Thema passt. Es ist schon einige Jahre alt, leider undatiert.

Fahren

wir ziehen weiter wir lassen zurück
ein Haar einen kleinen Halbmond Fingernagel
immer ein Stückchen von uns
wir fahren und verlieren uns
an Orte Personen Träume die nicht
transportabel sind so sind wir zerstreut
wie Salz auf einem hart gekochten Ei


Warum ausgerechnet wie Salz auf einem hart gekochten Ei? War das nur ein kleiner Witz oder habe ich mir etwas dabei gedacht? Und ist das Ei überhaupt schon gepellt? Diese Frage wurde mir ernsthaft gestellt, aber ich denke doch! Wer streut Salz auf ein ungepelltes Ei? Vielleicht deswegen das Bild, weil Salzkörner auf gepellten Eiern immer so ein seltsames glasiges Aussehen annehmen, so dass jedes einzelne hervorgehoben wird? Vielleicht war es auch eine assoziative Verbindung auf der lexikalischen Ebene von "zerstreut" zu "Salzstreuer"...

Ich möchte einfach mal denken, dass es deswegen um Salzkörner und hart gekochte Eier geht, da unsere Zerstreutheit an unterschiedlichste Orte und Menschen doch letztendlich dem Ganzen die Würze gibt!

Aus Vorzeigezwecken habe ich übrigens auch ins Englische übersetzt, wie findest du die Version?

Going (Travelling?)

we go further we leave behind
a hair a little half-moon fingernail
always a bit of us
we go and loose ourselves
to places persons dreams which are not
portable so we are scattered
like salt on a hard-boiled egg

Bis bald,
deine Sibylla

Samstag, 15. Januar 2011

Jerichokaleidoskop

Nicht die Spur Verdunkelung, Kreuzschnäbel, zwitschernd
von Spannung, diesseits Giraffen in langsamen Bauen
hungrig auf Sand und die Fundamente für morgen
gerüstet zu sehen, das war der Dreh: alles durchschaubar

und unverständlich. Die Nächte sprachen Pidgin
mit dem Rudel, zu sagen, das Gelichter jagte
einem unter die Lider weiße kreisende Stunden,
klänge nach etwas, das uns nicht erreichte.

Schon Personal der Träume unserer Hälfte
dieses steinern dämmernden Hirns, spielten wir
Insulaner, die das Festland wunderte, das Fließen
von Verkehr, Verschollene. Wiederholungen

Holungen. Was von drüben aus: eine Gefahr,
die uns vor einer anderen retten sollte, und durch welche
Gläser, übertrieb man wie wir mit unseren Scherben?
Die schwärzten wir der halben Sache zum Trotz, die Sonne

verschwand nicht ganz, sie hinterließ uns
fast das Fliederdickicht. Woran ich mich erinnere,
ist unser Warten, zusammengedrängt auf dem Weg.

von Sylvia Geist

erschienen in: Vor dem Wetter. Gedichte. Luftschacht Verlag, Wien 2009.


Sylvia Geist, *1963 in Berlin, lebt in Hannover und Vancouver. Zuletzt erschienen die Novelle „Der Pfau“ (2008) und der Gedichtband „Vor dem Wetter“ (2009), im März 2011 kommt ein Erzählungsband unter dem Titel „Letzte Freunde" heraus (alle im Luftschacht Verlag, Wien). Mehr unter www.sylvia-geist.de.

Sonntag, 9. Januar 2011

Liebe Sibylla,

ich schreibe dir heute nur kurz. Genau wie du, bin ich völlig von dem Kolmar-Aufsatz absorbiert. Wieviel Arbeit das ist… Dazu bin ich noch angeschlagen. Ne, aber ich habe schon noch mal gemerkt, wie schwierig und aufwendig wissenschaftliches Schreiben ist. Wenn man was geschafft hat, ist man natürlich auch froh. In diesem Fall haben die Formatvorlagen noch zusätzlichen Aufwand gekostet. Und die Literaturbeschaffung ist nicht zu unterschätzen. Wie viele Stunden alleine dafür drauf gehen. Und dann fährt man für zwei Bücher zwei Stunden durch die Stadt in zwei verschiedene Bibliotheken. War zu diesem Anlass gestern das erste Mal im Grimm-Zentrum. Es ist schon beeindruckend und auch gut organisiert, aber im ersten Moment völlig verwirrend. Bin zwei Treppen in den Keller gelaufen, um dort festzustellen, dass man sich ein eigenes Vorhängeschloss für die Schließfächer mitbringen muss. Im Foyer sind neue Schränke, die man mit der Mensa-Card abschließen kann. Die hatte ich immerhin, am Fach dann rausgefunden, sie muss erst aktiviert werden, zurück zum Automat. Dann habe keinen Aufzug gefunden, in den 5. gelaufen, am Ausgang musste ich mich erstmal mit dem Ausleihautomat vertraut machen usw. Zusätzlich bin ich bei jedem Bibliotheksbesuch erschüttert, wie viele Leute dort hinströmen, auch vor Ort arbeiten. Und gestern war Samstag.

Wenn ich lese, lese ich gerade eine Biographie über die mexikanische Fotografin Tina Modotti. Finde sie nur mittelmäßig interessant und gut geschrieben, aber was mir gefallt sind die Orte: San Francisco, L.A. und Mexiko Stadt. Habe sie geschenkt bekommen, hatte sie schon eine Weile liegen und kam dann mit einer Kollegin, die über indigene Völker in Mexiko geforscht hat, auf sie zu sprechen. Die Geschichte mit dem Buch davor geht genauso, Gespräch mit Kollegem, Erinnerung, dass das geschenkte Buch noch ungelesen zuhause liegt, geweckte Neugier. Nur das Ergebnis war besser, war sehr positiv überrascht von Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“. Es ist wirklich gut geschrieben, interessant und lustig.

So genug für heute. Bald sehen wir uns ja auch!

Viele Grüße,

deine Eva