Donnerstag, 10. Juni 2010

Liebe Sibylla,

ich freue mich, dir heute den ersten Brief zu schreiben und bin auch ein bisschen aufgeregt. Ich habe dafür in den letzten Wochen schon in meinem Kopf gesammelt. Also gut, dass es jetzt losgeht!
Wie du siehst, habe ich die Linkliste um ein paar Blogs ergänzt. Es sind allerdings nur sehr wenige, was daran liegt, dass ich insgesamt nicht viele gefunden habe und davon konnte ich höchstens mit einem Drittel was anfangen. Ich frage mich, ob das an den Suchmaschinen liegt, oder ob es wirklich so wenig gute gibt. Bei uns habe ich auch keine Möglichkeit gefunden, Tags wie Lyrik, Literatur und Blog einzugeben.
Neulich ist es auf der Post zu einer lustigen Begebenheit gekommen. Ich habe ein Päckchen abgeholt, wegen dem ich schon mal spontan, ohne Abholkarte da war, und das dann nicht gefunden wurde. Dieses Mal hat es auch gedauert und war am Ende doch an seinem Platz. Was jetzt genau das Problem war, keine Ahnung. Auf jeden Fall, als das Päckchen dann vor mir lag, guckte ich nach links. Dort, derselbe glänzende rote Aufkleber, hm, dachte ich, ist das Standard? Das Päckchen hatte aber auch dieselbe Größe, dieselben zwei Briefmarken mit pinken Blumen. Das veranlasste mich laut, häh, zu sagen und mich rüberzubeugen, um einen Blick auf den Absender zu werfen. Ich sagte zu der etwa gleichalten symphatischen Frau, wir haben ja genau dasselbe Päckchen. Sie und die Postbeamtin lachten und meinten, das hätten sie auch gerade gemerkt. Es war das neue AutorInnen-Handbuch von Uschtrin. Sie sagte dann noch, dass sie es das erste Mal bestellte habe, ich, ich auch.
So jetzt ist der Brief schon so lang, dass ich die anderen Sachen aufhebe, falls mir mal nichts Aktuelles einfällt.
Ich hoffe, bei eurem Invent/Tura-Projekt läuft alles glatt und ich höre bald von dir.

Viele Grüße aus dem (endlich) schwülen Berlin,

deine Eva

Dienstag, 8. Juni 2010

Die Taubheit die Wut ist

da steht ein Haus am Rand eines Dorfes
hat ein angeschrägtes Flachdach und einen
baufälligen Holzbalkon besser nicht zu betreten
innen ein erster Stock der halb ist wie auf einer
technischen Zeichnung zu Anschauungszwecken seziert:
halbes Haus halb erträumt die frühe Vertreibung von dort
wo ich etwas von mir im Garten hinterließ vielleicht einen
durch eine Milchzahnlücke gespuckten Kirschkern – oder
vielleicht war es doch ein Zahn ein Arm eine Herzkammer
vielleicht war es mehr: das häufige Heulen diese ewige Angst
das In-die-Hose-Machen die Lust auf Süßes halbe Kaugummis
bespeichelt von mir keimen in der Erde meine Klage wächst
mein Hals juckt mein Knie juckt meine Wange juckt
nicht kratzen du sollst nicht kratzen mein erstes Gebot
Haus am Waldweg der Weg zum Wald mit Kamillenblumen
an seinen Rändern wir Kumpels liebten ihn wir kochten Tee
ich fühle eine Sehnsucht die an dem vorbeigeht
was das Haus jemals war ich fühle die gekappte Verbindung
die Klage die Taubheit die Wut ist

Paradiesgärtlein

mein Utopia hat viele Kräuter es riecht gut
liegt in Mauern auch Rapunzel wächst dort
auch ist der Rasen gepunktet von Gänseblüm-
chen. in ihm erfahre ich von Jahren die wie
Honig fließen langsam und köstlich ich fühle
den Widerspruch der glatten Frucht an meiner
Wange zu dem porigen Stein den ich streichle
zu dem schleimigen Film einer Schnecke zu
der keiner Berührung standhaltenden kalten
Haut des Wassers zu dem Kitzel von Fliegen-
beinen in der Armbeuge und ich stimme ihm
zu. heiter vertieft mich das langsame Studium
rückt mich körperlose Schrift noch tiefer in es
hinein in mein Gärtlein dies mit hohem Ein-
satz errungene Stückchen für das ich jeden
einzelnen Stein selber herbeischleppte auf
meiner Zunge das war in keinem Märchen
keiner Legende das ist: eine wahre Begeben-
heit harte Arbeit die sich stets neu ereignet
an meinem würzigen Nähr- meinem würzi-
gen Lustgarten mit der zahnweißen Pforte

kein weicheres omen

nach einer woche eisernem verweilen
zeichnet der schnee reime wo
noch wiese, meer schon bald
die oberflaeche bildet
ist es wirklich noch meer, wie es
sich da aufeinanderschiebt?
ich zaehle kalte berge und tuerme
und moewenschreie es gibt
kein weicheres omen

Beschwörung

(Zu David Grossmann 2010)

Auf der Flucht der Flucht vor den Nachrichten die
die eine persönliche die nackte unversöhnliche
enthalten könnten wandern sie durch Galiläa sie
eine Frau und ein Mann deren gemeinsamer Sohn
ist ihm unbekannt gegen seinen Tod an erzählt sie
die Wanderung strengt auch mich an viele Schichten
gut geschildert aber die Proportionen sie
passen nicht mehr so der dialogische Epilog
im Fieberwahn schürt Erwartungen an eine Form die
ihre Vollendung schuldig bleibt irgendwo
das Ende geht dann doch zu schnell weil sie
so manche Einzelheiten auf der Stecke verloren
gingen in der steinigen Ödnis aus der die
braune Hündin tritt auch ohne den Krieg wird
eine Familiendreiecksgeschichte aufgeladen die
zu erwartende Eifersucht bleibt aus und verstörend
ohnehin schwierige substantielle Situationen sie
werden durch Sex bei dem viel geredet wird erleichtert
andererseits gesteigert zur Unerträglichkeit die
politische Ausgewogenheit und private Mystik verstören
nah an Israels Natur

Nervenblinken

Die einzelne Flasche wird zur Spur eines Gelages
zusammen mit den Socken und der Käserinde zur Geste

Das Warten auf den Umschlag aufzublinken unten zwanghaft
schnell kommend und gehende Gedanken kratzen im Kopf
das Blut drückt von innen gegen die Haut

Die angestrebte Auflösung ist verhindert
zu stark gewünscht von falschen Worten vertrieben
aufsteigende Ohnmacht kann Essen nicht schlucken

Nebel für Berlin

Gestern las ich eine Geschichte
über Nebel in Niederschlesien
da fiel die lange Abwesenheit
von Nebel mir auf
Nur verschwommene Erinnerungen
zu städtisch Berlin scheint
zu weit weg vom Meer zu sein
Städtischsein allein reicht nicht
in San Francisco und Tel Aviv
gab es das Phänomen
Aber nicht den Satz verdienend
„Ich konnte meine eigene Hand
vor Augen nicht sehen“
So Nebel gab es früher, Ferndorf
meistens morgens, Kindheitsort
Nebel sind nicht eigentlich schön
Nicht wie Regenbogen
eine Versöhnungsgeste
eher eine Gesichtsmaske
die gelegentlich aufzulegen
Spaß machen könnte