Montag, 18. Oktober 2010

Liebe Eva,

am Sonntag bin ich von dem Poesiefestival "Polip" in Priština, Kosovo, zurück gekommen und bin noch ganz erfüllt von den vielen neuen Eindrücken, der guten Atmosphäre auf den Veranstaltungen, der meist sympathischen Chaotik der Stadt, dem Kennenlernen der anderen Dichter/innen und ihrer Texte. Schön war vor allem die abwechslungsreiche Gestaltung der Lesungen, es wurden u.a. Gedichte auf Albanisch, Kroatisch, Deutsch und Serbisch gelesen, außerdem gab es Livemusik, Hörspiele und Videoprojektionen. So war es stets spannend und unterhaltsam, auch wenn man nicht alle Sprachen verstanden hat und sich streckenweise mit dem reinen Sprach-Klang zufrieden geben musste. Sehr beeindruckt hat mich der aus Albanien stammende Dichter Ilir Ferra, der in Österreich lebt und auch auf Deutsch schreibt. Ein noch weit entferntes Ziel für mich, in der hiesigen Sprache schreiben zu können... Ich selber habe an erster Stelle Gedichte zu besonderen Orten in Bosnien und Herzegowina gelesen.

In deinem letzten Brief stimmst du mir zwar zu, dass Versehrtheit ein wichtiger Begriff in der Literatur ist und dass er die Ausstrahlung von Mostar gut beschreibt, stehst ihm aber auch skeptisch gegenüber. Wer möchte schon versehrt sein? Und welche Literatur mit dem Attribut "therapeuthisch" versehen? Ich verstehe was du meinst. Allerdings denke ich bei Versehrtheit, auch bei der von Mostar, gar nicht so unbedingt und automatisch an Krieg und Schmerz. Es stimmt, es geht hier auch 15 Jahre danach ständig um den Krieg und wie können die Narben wirklich heilen, solange die Stadt geteilt ist? Trotzdem gibt es für mich auch eine eher symbolische Ebene, auf der ich mich von den realen Geschehnissen, die schrecklich waren, distanzieren kann. Die Einheimischen mögen es verständlicherweise nicht, dass die Touristen so gerne die skurrilen Ruinen mitten in der Stadt, Zeichen der Versehrtheit, fotografieren. Aber für die Touristen und auch für mich, irgendwo im Dazwischen verortet, sind diese Gebäude erstmal nur interessant, nie gesehen, unerhört, sogar schön mit Rostflecken, Glasscherben und wuchernden Pflanzen. Bei aller Betroffenheit ist finde ich auch diese Perspektive verständlich.

Das ist so ein bisschen das Gegenteil von therapeutisch, entspricht so einer gewissen menschlichen Lust an der Traurigkeit, wie sie übrigens besonders gekonnt in Sevdah-Liedern, den typisch bosnischen, stets von unerfüllter Liebe handelnden Volksliedern gepflegt wird. Über diese Liedtradition gibt es einen Film, der unter anderem in Mostar spielt, hier ist der Link zu einem Teaser: http://www.youtube.com/watch?v=u3QS6A6_Xi0
Der Film heißt einfach "Sevdah", ist von Marina Andree und ist sehr empfehlenswert. Wer sich für BiH interessiert, sollte ihn unbedingt schauen.

Soviel für heute. Liebe Grüße!

Sibylla