Dienstag, 21. Februar 2012

Liebe Eva,

seit drei Tagen regnet es in Mostars weißes Wunder, den Schnee, der die Stadt für Tage lahmgelegt hatte. Im Winter ohne Strom, Wasser und Heizung ist etwas, woran man sich nicht mehr gewöhnen will. Auch wenn es lustig war, das Staksen durch die weißen Massen, das Fotografieren und Facebooken der Autodächer, die gerade mal einige Millimeter aus dem Schnee guckten. Es muss nicht sein, schon gar nicht in einer Stadt, in der die Erinnerung an vier Kriegsjahre ohne Strom und Wasser noch so lebendig ist, dass auf einmal nur noch davon die Rede ist. Und wo wird auch TV und Internet so sehr geliebt wie hier? Ich verstehe es gut, dass diejenigen, die Jahre lang darauf verzichten mussten, nun ihr Recht auf Unterhaltung und Fernkommunikation mit Hingabe einlösen wollen. Und es gibt ja immer noch Defizite: Z.B. wollten wir gestern eine gemeinsame Amazonbestellung machen, nur um festzustellen, dass die sorgfältig ausgesuchten (englischen) Bücher alle nicht nach Bosnien lieferbar sind. Ich würde schwören, dass das zu einem früheren Zeitpunkt (mit deutschen Büchern?) schon einmal geklappt hat.

Einer weiteren Errungenschaft der Zivilisation blicken wir in diesem Frühjahr entgegen: Einem riesigen Einkaufzentrum, das schon zu einer Art Sehnsuchtsort für viele geworden ist. Auch für mich. Immer wieder sorgt es für Gesprächsstoff. Ein großes Kino soll es geben (endlich endlich!), Mc Donalds - und vielleicht auch diesen Seifenshop, diesen Laden, den es auch in Sarajevo gibt, wie heißt er nochmal? Jeder wartet auf etwas anderes, der eine auf westliches Fast Food der andere auf einen Delikatessenanbieter, ja, vielleicht gibt es ja sogar einen großen Buchladen? Dabei ist doch nichts sicher (außer dass es tatsächlich vier große Kinosäle geben wird, dass weiß ich aus verlässlicher Quelle - denn auch ich, wie jeder Zweite, kenne jemanden, der am Bau des Kolosses beteiligt ist). Vielleicht ereilt die Mall auch das Schicksal der vielen anderen fehlinvestierten Einkaufzentren in Mostar. Es bleibt halb leer und wird wieder nur das Gegenteil von dem, was man erhofft hat: Ein Symbol für die Entbehrungen in einem wirtschaftlich nicht funktionierenden Land. Denn es stimmt zwar, dass die Mostarer es lieben, Klamotten zu shoppen und in Cafes rumzuhängen, aber wo über 50% der jungen Menschen arbeitslos sind und Kleinunternehmern mit hohen Abgaben und null Unterstützung nur Steine in den Weg gelegt werden, sind bereits seit Neujahr 7000 kleinere Geschäfte pleite gegangen.

So siehts hier aus im Jahre 2012, dass Juli Zeh hierher gereist ist, ist bereits über 10 Jahre her. Ich habe ihr Buch, das du in deinem letzten Brief erwähnt hast, mit Genuss gelesen, auch wenn ein bisschen der Tiefgang fehlt. Zumindest macht sie in "Die Stille ist ein Geräusch" nicht deutlich finde ich, dass sie sich intensiv mit dem Land beschäftigt hat, es ist alles ein bisschen naiv geschildert, pseudo-naiv würde ich meinen, einer Erzähltechnik geschuldet. Kurze Zeit später gab es im Land einen kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwung, der aber schnell wieder "versandet" ist. Ach ja: Und die Neretva "chirurgengrün" zu nennen ist doch etwas untertrieben - da muss einem doch etwas Schöneres zu einfallen als die Atmosphäre eines OP-Saals. Vielleicht die grün-blaue Kachelung eines Hamam? Darüber denke ich bis zum nächsten Brief nochmal nach.

Deine Sibylla