Freitag, 28. Dezember 2012

Ausbruch der Madonnen

In gesprenkelte Helligkeit
brachen sie aus. Kirchenlicht
fürs Jenseits geschminkt.
Eine Gnadenbildmadonna
eine Madonna mit dem Kinde
eine einstmals mit dem Kinde
eine sterbende Madonna
fielen aus dem Steingemäuer
jener Art Verlies, gewöhnlich
von Stiefmüttern bewohnt
und ausgedienten Hexen.
Die Heizkörper lehnten
an den Kirchenbänken
die Klempner verschwanden
in die Brotzeit. Ich blieb allein
das Schiff schwankte im Schweigen.
Da regte sich ein blasses
steinzerkratztes Wesen
da rollte zag aus dem Versteck
die Letzte ihrer Reihe:
Vesperbildmadonna,
den toten Jesu steif im Arm
plumpste hölzern mir zu Füßen –
vor meine Füße, Frau Äbtissin!
Spät lag ich wach an diesem Tag
sah meine Zehen an,
zehn kleine Wunder.

Gedicht von Nora Bossong

aus der Anthologie "Poesie und Stille", Wallstein Verlag, 2009.

Nora Bossong, *1982 in Bremen, lebt heute in Berlin. Sie studierte Kulturwissenschaft, Philosopie und Literatur an vielen Orten, u.a. in Rom und in Leipzig, am Deutschen Literaturinstitut. Nora Bossong schreibt Lyrik und Prosa, sie hat in beiden Genres bereits mehrere Einzelveröffentlichungen. Zuletzt erschien 2012 der Roman "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" im Hanser Verlag.

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Liebe Sibylla,

lustig, dass du in deinem letzten Brief deine Irritation über die Allgegenwart von Jack Wolfskin-Bekleidung geäußert hast. Mir sind der Wandel oder zweifelhafte Aufstieg der Marke auch schon ohne den räumliche Abstand aufgefallen, was mich z. B. letzte Ostern an der Ostsee, wo es auch einen ganzen Store an der Strandpromenade gab, zu einem privaten Mini-Vortrag zum Thema verleitet hat. Mitte der 80er Jahre hat mein Vater einen großen schwarzen Wanderrucksack mit pinkem Rückenteil und der Tatze gekauft, den ich dann als Jugendliche übernommen und erst vor ein-zwei Jahren in recht zerfetztem Zustand aufgegeben habe – für meinen Rücken war er eigentlich immer zu breit, aber ich mochte ihn sehr. Vor ein paar Jahren ist Jack Wolfskin dann, besonders dominant (es gibt ja noch ein paar andere Marken mit ähnlichen Entwicklungen), von der Spezialausstattung zur Alltagsmarke geworden – inklusive Fußball-Bandenwerbung, eigener Stores usw. Die Label-Kennzeichnung an den einzelnen Teilen ist dabei ebenfalls ausufernder geworden, die Tatze immer an mehren Stellen – gedruckt und in Leder aufgenäht – zu finden. Seitdem sind auch deutsche Innenstädte ein einziges wildes Outdoor-Gelände. Eine dezente Tatze hier und da war mir lieber. Habe sie sowieso lange für einen Bär und nicht, obwohl natürlich naheliegend, einen Wolf gehalten, was ich auch sympathischer fand. Von einsamen Wölfen kann jedenfalls keine Rede sein.

So, Zeit für einen kurzen Jahresrückblick. Beruf: Es war auf jeden Fall sehr angenehm, das ganze Jahr dank des Stipendiums abgesichert zu sein und der gleichen Tätigkeit nachgehen zu können. Schade, dass es nächstes Jahr schon wieder vorbei ist. Familie: Als Herausforderung nicht zu unterschätzen. Zahl der besuchten Hochzeiten bleibt konstant bei leicht rückgängiger Tendenz (noch keine Einladung für nächstes Jahr). Endlich zwei neue Babys im näheren Freundes- und Familienkreis. Schreiben: Die Freude über die ersten Anthologie-Veröffentlichungen macht süchtig nach mehr. 

Ich wünsche euch schöne und friedvolle Feiertage und einen guten Rutsch!

Liebe Grüße
Eva

Donnerstag, 29. November 2012

wir sind aufeinander gestimmt, wir haben zeichen im blut


wir sind aufeinander gestimmt, wir haben zeichen im blut
die abdrücke von zwei hufen, die beim gleichen schmied waren.
du kannst wegkriechen, aber welches halbe pferd kann springen?
wenn du so halb im sand liegst, verschmelzen wir wieder.
auch ich will weglaufen, weil wir wahnsinnig werden im schnee.
niemand, der uns sieht, ist auf die klebrigen fäden gefasst
die uns verbinden wie unterseeische kabel die kontinente.
ich werde ruhig, wenn wir im auto sitzen & fast einschlafen.
ich denke, wir sind ein tier mit zwei herzen & zwei augen.
wollen wir vernünftig sein, müssen wir zum schlachthof gehen.

von Carl-Christian Elze

Das Gedicht stammt aus dem Band ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist. luxbooks, Wiesbaden 2012, der im Dezember erscheinen wird.

Carl-Chritian Elze *1974 in Berlin, lebt in Leipzig. Er studierte Biologie und Germanistik, und später am Deutschen Literaturinstitut Leipig, schreibt Lyrik, Prosa und Drehbücher. Der Vorgänger-Band ist gänge. Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2009. Er hat in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht (z. B. Lyrik von Jetzt 2, Neubuch, Bella Triste, Edit) und viele Auszeichnungen erhalten, darunter der Lyrikpreis München 2010 und poet in residence in Dresden-Loschwitz 2013.

Mittwoch, 21. November 2012

Liebe Eva,

es kommt mir so vor, als frage jeden Tag einer "Hast du Lust, Tatort zu gucken?" - ist aber nicht jeden Tag. Es ist schon wieder Sonntag. Eigentlich hat sich seit der Ankunft in Leipzig Ende Oktober ja schon viel getan. Zahlreiche Behörden habe ich von innen gesehen, zahlreiche nummerierte Zettel gezogen, die gröbsten Dinge zur Wiederaufnahme in die deutsche Gesellschaft angestoßen - und doch staut sich da so eine Ungeduld an, eine Unzufriedenheit oder Unfähigkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es scheint mir, jetzt ist bald Weihnachten (am Weihnachtsmarkt bauen sie jedenfalls schon wochenlang rum) und dann ist Silvester und am Neujahrstag wird sich bewahrheiten, was ich bereits ahne: 2012 kann ich eh nichts mehr reißen.

Einen guten Monat sind wir also hier, meine Bosnier und ich. Die Stimmung ist durchwachsen. "Warum tragen die Deutschen alle Jack Wolfskin-Jacken? Was hat es damit auf sich?" "Warum bekomme ich beim kollektiven Pizzaessen immer ein exakt gleich großes Stück zurück, wenn ich jemanden von mir probieren lasse? Und wo ist die Majonnaise?" Ich weiß es nicht und es gibt relevantere Fragen. Aber diese leichte Befremdung spüre ich auch, in beide Richtungen. In meinem letzten Brief hatte ich ja angekündigt, etwas über bosnisch-deutsche Fremdbilder zu schreiben. Leider überwiegt in meiner Wahrnehmung, wahrscheinlich auch ausgelöst durch den kleinen Kulturschock, momentan eher das Negative und Klischeehafte. Wenig Gemeinschafts- und Familiensinn vermutet man auf der einen Seite, überkommene Beziehungs- und Familienmodelle auf der anderen. Bosnier denken vielleicht: "Euer Wohlstand ist unbegrenzt, ihr habt es so leicht" und Deutsche: "Eure Armut ist selbstverschuldet, ihr habt keinen Organisationsgeist und einen Hang zur Kriminalität". Aber vielleicht überbewerte ich momentan auch reservierte Gesichter und Fragen wie "Was macht man denn da unten, in Bosnien und Herzegowina?"

Erst einmal muss ich die Umwälzungen in meinem bosnisch-deutschen Leben etwas besser verdauen, bevor ich überzeugende Worte und Schlussfolgerungen finde. Deshalb halte ich es heute kurz und verbleibe mit einem Fragezeichen.

Gute Nacht,
Sibylla

Freitag, 19. Oktober 2012

Liebe Sibylla,

jetzt dürftest du schon in Leipzig sein. Das Wetter meint es ja schonmal richtig gut, und möchte dir den Übergang erleichtern. Ich hoffe, die Stadt bietet dir auch ansonsten einen warmen Empfang. Ich jedenfalls freue mich sehr, dass wir für die nächsten Besuche nur 200 statt 2000 Kilometer zurücklegen müssen. Gerade sitze ich auf der Dachterrasse, die Sonne scheint mir waagerecht ins Gesicht, über die Mauern lugen Antennen, Schornsteine, mehrere Kirchturmspitzen und ein Baumwipfel.

Letzte Woche hat sich die bessere Hälfte des Herbsts, in der die Blätter noch bunt an den Bäumen hängen, zwar schon von einer viel kälteren Seite gezeigt, aber ich hatte Besuch von meiner Schwester und ihren Töchtern und wir waren viel draußen. Vor allem, um Spielplatz-Hopping zu betreiben. Zwischendurch, den Maybachufermarkt mit seinem Getümmel im Rücken, habe ich das Foto gemacht, das ich dir einfach mal mitschicke. Die Idylle trügt allerdings etwas, denn die parkenden Autos, die ich gerade so aus dem Bild raushalten konnte, standen halbradtief in faulig-schwarzen Pfützen, die mit den vor sich hin modernden Blättern eklig aussahen und auch so rochen.  

Und dann gab es ja auch noch den literarischen Herbst mit der Frankfurter Buchmesse. Ich war noch nie da, aber freue mich immer über die Berichte. Lass uns mal zusammen zur Leipziger Messe gehen! Obwohl ich in meinem Stolz immer dachte, ich gehe erst hin, wenn ich dort eine Aufgabe als geladener Gast oder Fachbesucherin habe. Wie auch immer, auf jeden Fall hat mich dieses Jahr das Spezial der Konkret mit dem Titel „German Psycho. Depression und Gesellschaft“ besonders interessiert. Es gibt acht verschiedene Beiträge zum Thema, unter anderem ein gutes Interview mit der Psychotherapeutin und Buchautorin Andrea Jolander, in dem sie mit gängigen Vorurteilen gegen Psychotherapie, wie dass alle Psychologen/innen selbst verrückt seien oder auch privat ihre Gegenüber permanent analysierten, aufräumt. 

Die Ausführungen aus deinem letzten Brief über das verschiedene Styling, das das gegenseitige Verständnis erschwert, fand ich übrigens einleuchtend. Ich denke in Berlin verhält es sich in Bezug auf Leute mit türkischem oder arabischem Background in Kontrast zu den typischen Öko-hip-, Gammel- oder immer seltener werdenden Punk-Kreuzbergern ähnlich. Allerdings leben alle zusammen hier und in Mostar sind die „Westler“ ja überwiegend Touristen/innen und in der absoluten Minderheit, und überhaupt ist die Diversität insgesamt viel geringer, was die Gegensätze sicher verschärft. 

So, muss mal machen, gehe nämlich gleich nach Längerem mal wieder ins Theater. (Und die Sonne ist auch schon längst weg.)

Bis bald,
Eva


Samstag, 29. September 2012

Kondorlied

nie gesehen, höchstens schwach
ich kannte diese Schwäche aus der Nachbarschaft

     da stand ein Kleintierzoo vor vielen Jahren 
     im Wald am Elternhaus, ein Fertighaus                      
     ich zog vor vielen Jahren aus
     ich zog vor vielen Jahren aus
     die Gitter fielen, doch die Tiere blieben                                          
     mit ihren Muskeln war etwas geschehn
     war ihr Verlangen nicht mehr anzuspannen

viel später wurde ich geboren
mal spielten wir Kojoten jagen                         
mal nach Kojotenknochen graben                             
fast hätte ich verloren


Gedicht von Georg Leß

Georg Leß *1981 in Neheim, lebt in Berlin. Er hat in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht (u.a. Edit, Lichtungen, randnummer, Jahrbuch der Lyrik).

Donnerstag, 20. September 2012

Liebe Eva,

in deinem letzten Brief hast du dich noch einmal an deine allererste "Ella-Nachricht" an mich erinnert, was einen schönen Rahmen bildet, denn mit Beginn der Herbstsaison eröffnen wir ein neues Kapitel: "Liebe Ella" hat sich mit upgedatetem Aussehen und dem Label "Ausflüge" verjüngt und erweitert.

In Mostar ist es inzwischen herbstlich, ein Wetter, wie man es sich schöner nicht wünschen kann: Sonnenschein bei so genannten Wohlfühltemperaturen, dazu die melancholisch fallenden Blätter, diesigen Morgenstunden und goldgelben Farben. Auf meinen täglichen Spaziergängen schlägt mein Herz oft schneller, wenn ich die Schönheit der Stadt unverhofft wahrnehme. Und ich glaube, auch die Mostarer haben ihren Sinn dafür nicht verloren, so sehr sie über ihre Stadt schimpfen (wie sie heute ist, denn früher, vor dem Krieg, war fast alles besser - und das stimmt natürlich auch). So sieht man z.B. häufig alte "Mostarci" auf den Neretvabrücken stehen und stundenlang auf den Fluss herabschauen, wer Zeit hat, hält sich auf der Straße auf und genießt die Sonne und eine der vielen schönen Stadtansichten.

Da unterscheiden sich die Mostarer nicht viel von den Touristen. Was dann allerdings auch die einzige Gemeinsamkeit wäre. Die Touristen halten alles mit der Kamera fest, auch die Einschusslöcher, die sie aufregend finden, während die Mostarer sich für sie schämen. Die Touristen bewegen sich schneller und hektischer und man sieht, wie sie mit der Eindrucksfülle zu kämpfen haben. Sie schleppen viel mit sich herum, wohingegen ich bei den Einheimischen das Gefühl habe, dass es ein No-Go ist, sich mit etwas anderem als Einkäufen oder dem obligatorischen Damenhandtäschchen in der Fußgängerzone zu zeigen. Vielleicht hat es etwas damit zutun, dass man sich von den Roma deutlich abheben will, die überall zu sehen sind - Sammel- und Bettelware schleppend oder in alten Kinderwagen schiebend. Auch das gepflegte Aussehen der Menschen (rasierte und gegelte Männer, geschminkte und gefönte Frauen) hat vielleicht etwas mit Abgrenzung von den Roma zutun. Oder von den "Seljaci" - den bäuerlichen Landbewohnern, über die jeder Städter, jede Städterin, eine abfällige Bemerkung parat hat. Übrigens machen die Seljaci, die großteils tatsächlich noch sehr abgeschieden und traditionell leben, Bosnien und Herzegowina mehr als alles andere aus, denn es ist eine seit jeher sehr ländlich geprägte Gegend. Aber von ihnen hört man ja außer Vorurteilen nur wenig.

Die betont gepflegten Stadtbewohner also sind hier in Mostar mit den Touris aus dem "reichen, fortschrittlichen Westen" konfrontiert - was manchmal ein paradoxes Zusammentreffen ist. Denn vor allem die jungen Leute, die nach Mostar kommen, sehen oft arg verwahrlost aus. Wie ein Student eben mit Backpack und Urlaubsbart, barfuss, in Hippielaune, immer den Tabaksbeutel zur Hand. Aber das superteure Laptop eben auch. Fragt nach dem günstigsten Hostel oder schläft gar am Fluss. Und ist dabei doch unendlich viel reicher als die meisten Leute hier. Irgendwann steht er vielleicht mal in Anzug und Krawatte einer Firma vor oder wird Professor mit Traumeinkommen. Ich glaube, dass die Mostarer beim Anblick so Mancher ziemlich befremdet sind, denn sie wissen ja vom Wohlstand derer, die optisch eher in ihre "Roma-Schublade" passen. Befremdet im wahrsten Sinne des Wortes. Klar kennt man den Schlabberlook aus dem Fernsehen, hier gibt es ja ausreichend amerikanische, deutsche, französiche etc. TV-Kanäle. Trotzdem trägt der Unterschied im Styling viel dazu bei, dass das kulturelle Fremdverständnis auf beiden Seiten eher schlecht ist und das bosnische Bild vom Deutschen sowie das deutsche vom Bosnier stark klischeebehaftet sind.

Dazu im nächsten Brief mehr. Ich hoffe, es geht dir gut und freue mich, bald von dir zu hören.

Deine Sibylla . 

Montag, 3. September 2012

Neu! - Ausflüge

Mit dem Essay "Geister der Gegenwart - Geister der Vergangenheit. Erinnerung und Literatur in Mostar heute" starten wir ab sofort ein neues Label in "Liebe Ella". Unter dem Titel "Ausflüge" gibt es in unregelmäßigen Abständen Zusatzinformationen, in Form von Essays und Kritiken - oder auch mal Fotos etc. Damit möchten wir unser bewährtes Format der Briefe, Gastbeiträge und eigenen Gedichte um einige Kontexte erweitern und hoffen, unseren Leserinnen und Lesern eine Freude zu bereiten.

Geister der Gegenwart – Geister der Vergangenheit Erinnerung und Literatur in Mostar heute


(Dieser Essay von Sibylla ist, in etwas anderer Form, erschienen in: „Invent | tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina, hrsg. von Sibylla Hausmann und Karin Rolle, 2011.)


 „Wenn es eine Stadt gibt, die Stoff zum Schreiben hat, dann ist es Mostar.“
Veselin Gatalo, Autor, geboren 1967 in Mostar

Mostar heute
Was heißt Erinnerung in Mostar heute? Die gesamte Stadt mit ihren nach wie vor auffälligen Gebäudeschäden verweist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre, in der hier Krieg herrschte. Vergangenheit ist in Mostar sichtbar und greifbar, man nimmt sie sofort wahr. Verschiedene historische Schichten sind im Stadtbild augenfällig, osmanisch-habsburgisch-jugoslawisch. Diese befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls und der Zerstörung. Weil das Destruierte zu den primären Eindrücken von Mostar gehört, kann Erinnerung hier nur schmerzhaft sein.

Donnerstag, 23. August 2012

august

jeden sommer bangen büsche und bäume
ob noch die drehwurz in ihrem schatten steht
die schwarzdrossel durch ihr laub stöbert
das rotkehlchen nach weicher nahrung sucht

der maulwurf aber bleibt tief in der erde
wirft sommers wie winters erdhügel auf
luft holen sehen ihn busch und baum nie
nur die erschütterung ist da um ihre wurzeln 


Gedicht von Stefanie Kemper


Stefanie Kemper *1944 in Hirschberg/Schlesien, lebt in Maierhöfen/Allgäu. Sie hat mehrere eigenständige Gedichtbände herausgebracht, sowie Erzählungen und Kurzprosa, zuletzt "Orte. Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen" und "raps geht im wind. Gedichte und Bilder" (beide 2011). Kemper, die seit über 20 Jahren Lyrik und Prosa schreibt und veröffentlicht, hat bis 1999 als Biologin an einer Akademie gelehrt. Heute gibt sie u.a. Kreatives Schreiben Kurse und widmet sich in Zusammenarbeit mit Komponisten und Bildenden Künstlern der intermedialen Umsetzung ihrer Texte.

Samstag, 21. Juli 2012

Liebe Sibylla,

gerade habe ich nochmal deinen letzten Brief gelesen und mit Bedauern gedacht, dass sich deine Sehnsucht nach Meer noch nicht erfüllt hat. Die Sommerpause, die wir mit den Gastbeiträgen eingelegt haben, ist auch nicht dem vielen Urlaub sondern fehlendem Internet geschuldet. Davon abgesehen ist der Sommer bei dir in Mostar zu heiß (wie du mir in einer E-Mail geschrieben hast) und hier in Berlin mal wieder zu kalt. Aber naja, man kann nicht alles haben. Dafür hast du jetzt einen rechtmäßigen Ehemann und besitzt eine eigene Wohnung und ich durfte mal wieder meine Berufs-Qualifikationen in einem interessanten  Praktikum erweitern. Das sollte jetzt aber trotzdem das letzte gewesen sein! Außer ich beschließe plötzlich Tiefseetaucherin oder sonstwas zu werden, von dem ich gar keine Ahnung habe. Warum wird eigentlich immer die Tiefseetaucherin bemüht, wenn es darum geht, einen exotischen Beruf anzuführen? Weil es wirklich exotisch ist, man nicht unbedingt dafür studieren muss und vor allem, weil es so schön klingt.

Im allerersten Brief an dich hatte ich die Geschichte erzählt, wie ich das Autorinnen- und Autoren-Handbuch von Uschtrin bei der Post abgeholt habe und am Nachbarschalter dasselbe Päckchen entgegen genommen wurde. Jetzt gehts weiter. Ich hatte das Buch vor über einem Jahr an einen ehemaligen Arbeitskollegen verliehen. Wir hatten abgemacht, dass er es mir persönlich zurückgibt, zumal einer seiner  Bekannten mein Nachbar ist. Als einige Zeit vergangen war, wusste ich, dass es nicht mehr dazu kommen würde. Vor ein paar Wochen wurde ich langsam ärgerlich und dachte, ok, ich sollte wohl eine Erinnerungsmail schreiben, hatte es aber noch nicht gemacht. Am Donnerstag musste ich zur Post, weil  ich eine Abholkarte im Briefkasten hatte, was ich nervig fand. Die Poststelle, die für uns zuständig ist, ist nämlich nicht die nächste in der Bergmannstraße sondern die im Posthochhaus zwischen Hallesches Tor und Möckernbrücke (ca. fünf Busstationen). Das finde ich echt weit, um seine Pakete abzuholen. Ich habe mal nachgefragt, wie das eigentlich kommt. Es wird nach Postleitzahlen und nicht nach Entfernung sortiert. Aha. Ich arbeite ja oft zuhause und komme mir an manchen Tagen so vor, als sei ich die Poststelle fürs ganze Haus. Das ist eigentlich nett, weil ich dann einen kurzen Kontakt zu den wiederum netten Nachbarinnen und Nachbarn habe, der von Dankbarkeit geprägt ist. Aber umso ärgerlicher, wenn ich für meine Post so weit fahren muss. Gut, es war schönes Wetter (was im Moment heißt, es hat nicht geregnet), ich habe meinen Arbeitsrückweg unterbrochen und einen kleinen Spaziergang eingelegt. Schlange gab es auch keine. Da ich keine Post erwartete, war ich gespannt, was es abzuholen gibt. Absender: ein Postfach und ein Kürzel. Hm, direkt beim Rausgehen geöffnet. Erst noch die Hoffnung gehabt, es würde sich um das Belegexemplar einer der ausstehenden Veröffentlichungen handeln. Aber nein, ich hatte einfach mein silbernes Handbuch zurück, zusammen mit einer knappen Karte „Verzeih die Verspätung“.

Liebe Grüße und lass uns mal ein bisschen Wetter austauschen,

Eva

Sonntag, 17. Juni 2012

Liebe Eva,


in den letzten Wochen ist soviel passiert! Eine Hochzeit, ein Umzug, ein neuer Job... du warst hier – und auch wenn es diesmal nur ganz kurz war, war es wie immer sehr schön, wenn Berlin und Mostar plötzlich an einem Ort sind. Apropos Hochzeit: Zwar unterscheiden sich der Ablauf der Feier und seine Bedeutung nicht so stark von der deutschen Feierlichkeit, doch es ist zu vermerken, dass das Heiraten hier einfach wichtiger, ernster genommen wird. Es ist nicht etwas Schönes, das man sich mal gönnt, sondern etwas Elementares, das sich eigentlich jeder wünscht (und die Scheidungsrate wie erwähnt: in Bosnien und Herzegowina extrem niedrig). Spätestens seit „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ weiß doch jeder, dass es ein Zeichen für die Wichtigkeit einer Sache in einem bestimmten Kulturraum ist, wenn es viele, differenzierte Bezeichnungen für sie gibt. (Auch wenn ich gehört habe, es soll nur ein Gerücht sein, dass es im Grönländischen so unendlich viele Begriffe für Schnee gibt.) So gibt es hier einen speziellen Begriff für Hochzeitsgäste (svatovi), einen Begriff dafür, dass eine Frau heiratet (udati se) und einen, dass ein Mann heiratet (ženiti se), Ehering heißt „burma“ während der Begriff für Ring ein ganz anderer ist (prsten von prst: Finger) usw. Manchmal sind es gerade die feinen Unterschiede in der Bedeutung, die man Dingen hier zumisst, die auf den ersten Blick ja ganz ähnlich funktionieren, die mich verwirren. Alles scheint so gleich, so klar, man kann sich verständigen, Heiraten ist wichtig, aber kein Muss, und doch gibt es z.B. kaum unverheiratete Paare mit Kind, viele ziehen erst nach der Hochzeit zusammen, es bleibt ein kleiner Teil der Bedeutung im Ungewissen und führt eine Verwirrung stiftende Schattenexistenz. Und wenn das Zusammenleben hier teils traditioneller gestaltet ist, dann frage ich mich, ob es nicht vielleicht auch so etwas wie eine Zeitreise war, diese Verpflanzung noch Mostar, nicht nur ein räumliches Abstandnehmen von Deutschland. Aber es ist doch auch viel zu einfach, zu denken, dass die Umstände hier mit denen in Deutschland vor einigen Jahrzehnten vergleichbar sind. Und es ist auch dieses typische arrogante "die Gesellschaft hier hinkt der modernen westlichen Gesellschaft hinterher". In Deutschland war es nie wie es heute hier ist und hier wird nie so sein, wie es gegenwärtig in Deutschland ist.

Jetzt ist es Sommer und fängt an, richtig heiß zu werden. Und wie alle Mostarerinnen und Mostarer denke ich nur Meer, Meer, Meer – wann fahren wir endlich ans Meer? Also ein bisschen Urlaub hätten wir uns jedenfalls verdient. Nur so ein Wochenende lang. Piniengeruch, Salzwasser, Tintenfisch mit Knoblauch – hmmm, hoffentlich ist es bald soweit!

Deine Sibylla

Samstag, 19. Mai 2012

Umwege

an einer Erzählung herumprobiert und
zuletzt ein Gedicht angefangen
an dem weiterzumachen sich lohnt

eine Heirat, um sich
von einem Mann trennen zu können

mäandernde Flüsse, auf die am Ende das Meer wartet
der Vogel, der mit einer Steinsammlung um die Schöne wirbt
Blumen, bevor man in Verhandlungen eintritt
barocke Kapitelüberschriften

warten lernen
oder besser nicht warten
ein Bad nehmen
Wäsche einräumen
Gartenarbeit
halb gedankenlos
halb konzentriert

so machen wir uns auf den Umweg

rücken eine Vase zurecht
treten noch einmal auf den Balkon
schnipsen vom Tisch die Brösel

dann sind wir auf einmal da


Gedicht von Tina Stroheker

Tina Stroheker *1948 in Ulm/Donau lebt in Eislingen. Sie hat zahlreiche Gedichtbände und Prosa veröffentlicht und viele Preise und Stipendien erhalten (z.B. 1991 den Leonce-und-Lena-Förderpreis und 2003 den Josef-Mühlberger-Preis). Mitglied ist sie u.a. im Deutschen P.E.N.-Zentrum. „Umwege“ ist aus dem Band „Was vor Augen liegt“, Tübingen 2008. Mehr auf  http://www.tina-stroheker.de/

Mittwoch, 2. Mai 2012

jenseits von Afrika...

jenseits von Afrika: nicht hier, wenn im Sommer
Rauch aus den Öfen steigt (wo Plötze und Bach-
forellen an ihren zweiten Haken hängen)
ein eingezogner Boden unter kornklarem Himmel
Afrikafahrer führn ihn unter ihrem Fuß (ihren ruß-
schwarzen Sohlen)
eine Buckelstraße geht zum See, ein Mondgebirge
fern der Dächer und Dachse
mein eigener Ort
beim Anpfiff der Grillen
                                                mein witternder Springer


Gedicht von Anke Bastrop

Anke Bastrop *1982 in Halle, lebt heute in Leipzig, wo sie Germanistik, Journalistik und Literarisches Schreiben am DLL studiert. Sie veröffentlichte bereits in mehreren Zeitschriften und Anthologien und ist Mitglied der Literaturgruppe augen : post, siehe www.augenpost.de

Sonntag, 15. April 2012

Liebe Sibylla,

neulich musste ich nochmal an deinen vorletzten Brief denken, in dem du kurz über Norbert Hummelts Essay aus der Edit geschrieben hast. Dass er argumentiert, Lyrik schreiben sei besser für die geistige Gesundheit, Prosa schreiben führe hingegen eher zu Depressionen. Das hätte ich gerne mal genauer nachgelesen. Auf jeden Fall bin ich neulich beim Recherchieren auf eine wissenschaftliche Studie zu dem Thema gestoßen, die einen umgekehrten Zusammenhang behauptet. Es ging um Kreativitätsforschung und darum, dass Frauen, die Lyrik schreiben, eher an psychischen Krankheiten leiden. Oder andersrum: Frauen, die an psychischen Krankheiten leiden, schreiben eher Lyrik. Dieses Ergebnis hat sogar einen Namen bekommen. Es handelt sich um den „Sylvia-Plath-Effekt“! Die Fragstellung an sich finde ich allerdings schon seltsam. Sie funktioniert höchstens metaphorisch, um die Unterschiedlichkeit der Schreibprozesse zu illustrieren. Aber aus einer ernsthaften Betrachtung müsste man absurde Empfehlungen ableiten wie „bei Ihrem Geschlecht und Ihrer Vorbelastung rate ich eher zu Prosa“.

Im Moment finde ich Zuhause als Arbeitsort übrigens gut. Allerdings habe ich es mit der Gemütlichkeit wohl etwas übertrieben. Hatte meinen Arbeitsschwerpunkt auf die Couch-Ecke, Beine hoch, verlagert und leide jetzt unter starken Rückenschmerzen im Lendenwirbel-Bereich, so dass ich wieder zurück an den Tisch gezogen bin, zumindest unter der Woche. Ansonsten könnte ich gut mehr Arbeitszeit inklusive der nötigen Konzentrationsfähigkeit gebrauchen. Außer neuen Gedichten – apropos  es wurden jetzt zwei ältere Texte, „Nebel für Berlin“ und „Stille“, die auch hier im Blog stehen, für diese Junge Autor/innen aus NRW-Anthologie vom [SIC]-Verlag ausgewählt – würde ich auch gerne einen wissenschaftlichen Artikel über Siri Hustvedt schreiben. Ich hatte schon mehrmals angesetzt, die Ergebnisse aus der Magister-Arbeit umzuformulieren und es dann verworfen, mal aus inhaltlichen, mal aus Zeitgründen. Immer wenn gerade Ruhe eingekehrt ist, werde ich wieder darauf gestoßen. Es wird jetzt mehr über sie veröffentlicht und sie ist sogar als Gast bei der nächsten Jahrestagung der deutschen Amerikanist/innen mit Lesung und Vortrag vertreten. Da juckt es mich schon sehr…

Ganz viele Grüße,

deine Eva

Mittwoch, 28. März 2012

Dort

Jetzt sickern die Tage allmählich unter
die Haut und werden zu Wochen und
Jahren dort wo früher nichts war oder

doch eine Landschaft kaum erkennbar
für einen zufälligen Wanderer nun aber
fließt Zeit und es entstehen Siedlungen

am Ufer zerbrechliche Hütten und
Stimmen hört man den Gesang von
Wiegenliedern dass so etwas schön

ist weiß man so wird es nicht bleiben
auch das wissen wir längst und bei
den Ärzten sagt man wir hätten ein

abnehmendes Herz das kaum mehr
Licht gibt im Dunkel nur noch als
Sichel schwebt es wie unser liebstes

Gestirn über den Hütten und selbst
dort blicken die Alten mit Sorge zum
Himmel bereits dort ja genau dort


Gedicht von Max Sessner


Max Sessner *1959 in Fürth/Bayern, lebt und arbeitet heute in Augsburg. Er hat in Zeitschriften und Anthologien und im Internet veroeffentlicht (http://www.poetenladen.de/max-sessner.htm), sowie mehrere eigenstaendige Gedichtbaende herausgebracht. Zuletzt erschien der Band "Warum gerade heute" im Literaturverlag Droschl (Februar 2012). Das Gedicht "Dort" ist hier in "Liebe Ella" zum ersten Mal veroeffentlicht.

Sonntag, 4. März 2012

Der so oft beschriebene klangort der vögel:

allein im waldgebiet ein stückchen hinterm haus,
nur hinten in der.. borktriefenden tiefe so eines
nordbrandenburger hains (die alte stachbeerenlaube..)

also die vordere baumreihe, dieses auslöschende
von allen birken verlassene licht: dahinter vogelstreit
und sängeratem: schlechtwetterfront am nachmittag
und abends lahmt der letzte schreihals durch das bild

am sängerweg, dem lauten, nur ihre flüche einzufangen
auf so ein bandgerät, die stimmbandwaffe später, was dann
für immer so authentisch bleibt; die feldarbeit, die man im
spiegel betrachtet und an den fingern/ und einer singt

aus seiner deckung irgendwo/ gekropftes gebüsch, dort im flieder
der ohrenkundler, wie ein verbotener schütze und am morgen
bringt ein anderer den trog mit den stimmen, es klingt
als ob die reiflauten baumreihen vor lachen zerplatzen.

von Klara Beten

Klara Beten * 1981, lebt in Berlin. Sie hat in verschiedenen  Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht und gerade erschien der Band „kopfbild, default“ Gedichte, Leipzig 2012. Sie war Beiträger im Forum der 13 und erhielt den Dulzinea Lyrikpreis. http://klarabeten.blogspot.com

Dienstag, 21. Februar 2012

Liebe Eva,

seit drei Tagen regnet es in Mostars weißes Wunder, den Schnee, der die Stadt für Tage lahmgelegt hatte. Im Winter ohne Strom, Wasser und Heizung ist etwas, woran man sich nicht mehr gewöhnen will. Auch wenn es lustig war, das Staksen durch die weißen Massen, das Fotografieren und Facebooken der Autodächer, die gerade mal einige Millimeter aus dem Schnee guckten. Es muss nicht sein, schon gar nicht in einer Stadt, in der die Erinnerung an vier Kriegsjahre ohne Strom und Wasser noch so lebendig ist, dass auf einmal nur noch davon die Rede ist. Und wo wird auch TV und Internet so sehr geliebt wie hier? Ich verstehe es gut, dass diejenigen, die Jahre lang darauf verzichten mussten, nun ihr Recht auf Unterhaltung und Fernkommunikation mit Hingabe einlösen wollen. Und es gibt ja immer noch Defizite: Z.B. wollten wir gestern eine gemeinsame Amazonbestellung machen, nur um festzustellen, dass die sorgfältig ausgesuchten (englischen) Bücher alle nicht nach Bosnien lieferbar sind. Ich würde schwören, dass das zu einem früheren Zeitpunkt (mit deutschen Büchern?) schon einmal geklappt hat.

Einer weiteren Errungenschaft der Zivilisation blicken wir in diesem Frühjahr entgegen: Einem riesigen Einkaufzentrum, das schon zu einer Art Sehnsuchtsort für viele geworden ist. Auch für mich. Immer wieder sorgt es für Gesprächsstoff. Ein großes Kino soll es geben (endlich endlich!), Mc Donalds - und vielleicht auch diesen Seifenshop, diesen Laden, den es auch in Sarajevo gibt, wie heißt er nochmal? Jeder wartet auf etwas anderes, der eine auf westliches Fast Food der andere auf einen Delikatessenanbieter, ja, vielleicht gibt es ja sogar einen großen Buchladen? Dabei ist doch nichts sicher (außer dass es tatsächlich vier große Kinosäle geben wird, dass weiß ich aus verlässlicher Quelle - denn auch ich, wie jeder Zweite, kenne jemanden, der am Bau des Kolosses beteiligt ist). Vielleicht ereilt die Mall auch das Schicksal der vielen anderen fehlinvestierten Einkaufzentren in Mostar. Es bleibt halb leer und wird wieder nur das Gegenteil von dem, was man erhofft hat: Ein Symbol für die Entbehrungen in einem wirtschaftlich nicht funktionierenden Land. Denn es stimmt zwar, dass die Mostarer es lieben, Klamotten zu shoppen und in Cafes rumzuhängen, aber wo über 50% der jungen Menschen arbeitslos sind und Kleinunternehmern mit hohen Abgaben und null Unterstützung nur Steine in den Weg gelegt werden, sind bereits seit Neujahr 7000 kleinere Geschäfte pleite gegangen.

So siehts hier aus im Jahre 2012, dass Juli Zeh hierher gereist ist, ist bereits über 10 Jahre her. Ich habe ihr Buch, das du in deinem letzten Brief erwähnt hast, mit Genuss gelesen, auch wenn ein bisschen der Tiefgang fehlt. Zumindest macht sie in "Die Stille ist ein Geräusch" nicht deutlich finde ich, dass sie sich intensiv mit dem Land beschäftigt hat, es ist alles ein bisschen naiv geschildert, pseudo-naiv würde ich meinen, einer Erzähltechnik geschuldet. Kurze Zeit später gab es im Land einen kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwung, der aber schnell wieder "versandet" ist. Ach ja: Und die Neretva "chirurgengrün" zu nennen ist doch etwas untertrieben - da muss einem doch etwas Schöneres zu einfallen als die Atmosphäre eines OP-Saals. Vielleicht die grün-blaue Kachelung eines Hamam? Darüber denke ich bis zum nächsten Brief nochmal nach.

Deine Sibylla

Mittwoch, 25. Januar 2012

kokon

das nächtliche um uns:
ein specht schlägt eine tanne wund,
und alles nächtliche um uns:
ein mund besiegelt einen mund -

im nächtlichen gesicht der mond
liegt lächelnd, liegt im schwund
schon eine hand, die eine hand begriff.

wir sprechen nicht. wir flechten finger,
bänder, bänder bis verstummt
im hintergrund ein specht, sein puls:
die nacht den tag entpuppt.

von Sina Klein

Sina Klein *1983 in Düsseldorf, wo sie auch lebt. Studium der Romanistik / Anglistik / Germanistik. Seit 2010 regelmäßig Lesungen mit einem 5-köpfigen Autorenkollektiv; schreibt Lyrik, übersetzt und rezitiert.Veröffentlichungen u. a. in poet, Proto und lauter niemand. "kokon" ist hier erstmalig veröffentlicht. Mehr unter http://www.poetenladen.de/sina-klein.htm

Dienstag, 3. Januar 2012

Liebe Sibylla,

ich habe meine Eindrücke von Mostar im November noch ein bisschen nachwirken lassen und durch zweierlei Lektüre ergänzt: Eures Bands „Invent | tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina“ (Hg. Sibylla Hausmann und Karin Rolle 2011) und Juli Zehs „Die Stille ist ein Geräusch“ von 2003. Als Juli Zeh 2001 durch Bosnien und Herzegowina gereist ist, um das Reisebericht-Buch zu schreiben, war der Krieg erst seit fünf Jahren vorbei, die internationalen Friedenstruppen noch im Land und Tourismus nicht üblich. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Zerstörung ist mir die enorme Aufbauleistung das erste Mal aufgegangen. Bislang fand ich eher eindrucksvoll, dass es noch so viele Ruinen gibt, die man weder wieder herrichtet noch abreißt. Auch wenn sich seit 2001 schon viel getan hat, wird sowohl oberflächlich als auch in eurem Band deutlich, wie lange der Krieg zerstörend nachwirkt– wie Verlust und Teilung Alltag, Erinnerung und Kulturproduktion prägen.

Ansonsten fand ich es gut, von Juli Zeh Selbstbesuchtes noch mal beschrieben zu bekommen und festzustellen, dass es auch Konstanten gibt. Zum Beispiel das spezielle Grün der Neretva, das man direkt aus eurem Fenster sehen kann, und für das Zeh über das ganze Buch die richtige Bezeichnung sucht, um schließlich in Chirurgengrün die größte Annäherung zu finden. Auch die Steine der Bogumilen (eine mittelalterliche Abspaltung des Christentums), bei denen wir in der Nähe von Stolac bei unserem Ausflug angehalten haben, kommen vor. Und sie dienen übrigens doch als Grabsteine… Ich hänge mal ein Foto an. Und voraus stelle ich ein kleines Reise-Gedicht, das ich noch in Mostar angefangen hatte. Ach, und lustig fand ich auch, dass Juli Zeh während ich ihr Buch gelesen habe Gast bei „Hart aber Fair“ war (ich wusste vorher gar nicht, wie sie aussieht). Sie war als Gegnerin des Gesundheitszwangs da und gerade schwanger.

Viele Grüße

deine Eva

P.S. Wie du wahrscheinlich weißt, gab es in Berlin immer noch keinen Schnee und die Weihnachtsdeko muss langsam weg.



Im Südosten

Es ist wirklich ab
gedroschen. Doch
kann es nicht oft
genug betont wer
den. Wie anders
alles ist. Wenn die
Sonne scheint. Heu
te erhellt sie einen
gestern noch düster
en Fluss. Wehendes
Blattschattenspiel in
den Fensterbögen.
Die Kraft der Sonne.
Diese Wirkung
überrascht mal wie
der. Und macht heute
das Fremde so viel
freundlicher. Das Was
ser rauscht unablässig.
Dielen knarren. Mal
Katzen mal Hunde.
Und der Muezzin
singt zur Stunde. War
um nicht in das kleine
Turmzimmer rein.