(Dieser Essay von Sibylla ist, in etwas anderer Form, erschienen in: „Invent
| tura. Zeitgenössische Kunst und
Literatur aus Bosnien und Herzegowina, hrsg. von Sibylla Hausmann und Karin
Rolle, 2011.)
„Wenn
es eine Stadt gibt, die Stoff zum Schreiben hat, dann ist es Mostar.“
Veselin Gatalo,
Autor, geboren 1967 in Mostar
Mostar heute
Was heißt Erinnerung in
Mostar heute? Die gesamte Stadt mit ihren nach wie vor auffälligen
Gebäudeschäden verweist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre, in der hier
Krieg herrschte. Vergangenheit ist in Mostar sichtbar und greifbar, man nimmt
sie sofort wahr. Verschiedene historische Schichten sind im Stadtbild
augenfällig, osmanisch-habsburgisch-jugoslawisch. Diese befinden sich in
unterschiedlichen Stadien des Zerfalls und der Zerstörung. Weil das Destruierte
zu den primären Eindrücken von Mostar gehört, kann Erinnerung hier nur
schmerzhaft sein.
Das ist nichts Neues. Die
internationale Anteilnahme an Mostar seit 1995 ist groß. Seit Ende der 1990er
Jahre ist die Stadt häufiges Objekt soziologischer Feldforschung, zahlreiche
staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen aus aller Welt haben sich mit
Mostar auseinandergesetzt. Sie haben Geld und Sachmittel gespendet,
professionelle Beratung geleistet und Begegnungszentren und Vereine vor Ort
gegründet. Neben der politischen und ökonomischen Stabilisierung war die
Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit und Verarbeitung von Kriegserlebnissen/-traumata
eines der Hauptziele des internationalen Engagements. Unterhält man sich jedoch
mit Einwohnern der Stadt, egal welchen Alters und welcher Herkunft, wird
schnell klar, dass der gefühlte Erfolg dieser Maßnahmen gleich Null ist. Das
hat viele Gründe. Mir scheint, dass schon die Idee problematisch ist, Mostar
bei der Vergangenheitsbewältigung helfen zu wollen, indem Erinnerungen in Form
eines kollektiven therapeuthischen Prozesses gesammelt und artikuliert werden.
Vielleicht liegt es gerade aus deutscher Perspektive nah, zu denken, dass man
die Mostarer dazu bringen muss, über den Krieg zu reden und in einem
sogenannten „geschützen Raum“ ihre eigene Opfer- und Täterschaft zu
rekapitulieren. Ein Raum, der von der eigentlichen Lebenswelt vor Ort abgehoben
ist und künstlich erscheint.
Denn auch unaufgefordert
reden die Menschen in Mostar viel über ihre Erfahrungen mit dem Krieg und auch
über die weiter zurückliegende Vergangenheit der Stadt. Es gibt vielfältige
Weisen des artikulierten Erinnerns, die, wie jeder kommunikative Akt, auf die
Empfänger zugeschnitten sind. Eine davon ist die des Fremdenführers, welcher
Reisenden die Zerstörung der Stadt präsentiert (die imposanten unter den
Ruinengebäuden sind als Fotomotive fast genauso beliebt wie die alte Brücke).
Diese Art des Erinnerns hat etwas von der Präsentation alter Volksbräuche und
-riten für Reisende auf der Suche nach dem „Ursprünglichen“, Nachinszenierung
eines rituellen Tanzes ums Feuer. Also die Befriedigung der Hör- und Schaulust
des reichen Fremden für Geld. Das Gezeigte hat in diesem Kontext seine
ursprüngliche Bedeutung komplett verloren. Aber nicht nur diese einseitige,
praktisch motivierte Form des Redens über Vergangenes ist verbreitet. Auch der
Beobachter mit tieferem Interesse und Vorkenntnissen, der sich mehr Zeit für
Gespräche nimmt, wird bald feststellen, dass die Redebereitschaft und die
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Mostar sehr groß ist. Das Erinnern
zeigt sich hier als ein alltäglicher performativer Akt des Umgangs mit
Verlorenem. Es ist, als müsste das schmerzhaft Fehlende umkreist und immer neu
vergegenwärtigt werden.
Mostar ist seit dem Krieg
entlang ethnischer Trennungslinien in einen Ost- und Westteil geteilt. Im
Westen wohnen mehrheitlich katholische „Kroaten“, im Ostteil muslimische
„Bosniaken“. Heute treffen sich kroatische und bosniakische Jugendgangs in der
Mitte zwischen den beiden Stadtteilen, dort, wo die Frontlinie verlief. In
einem performativen Akt vollziehen sie, die Anfang der neunziger Jahre
Kleinkinder oder noch gar nicht geboren waren, die gewaltsame Teilung der Stadt
nach: Sie verprügeln sich vor dem Hintergrund einer (hauptteils konstruierten)
Andersartigkeit. So buchstäblich kann schmerzhaftes Erinnern in Mostar sein.
Gleichzeitig kommt in fast jedem Gespräch über die Vergangenheit der Stadt in
stolzem Ton die Rede darauf, dass es hier vor dem Krieg die meisten
„gemischten“ Ehen in ganz Bosnien und Herzegowina gab. Damit sind Ehen zwischen
orthodoxen, katholischen und muslimischen Einwohnern gemeint.
Erinnerung in der
Literatur
In dem dokumentarischen
Film „Sevdah“ von Marina Andree (2009), der unter anderem in Mostar spielt,
wird eine traditionelle, typisch bosnisch-herzegowinische Liedform vorgestellt,
der sogenannte „Bosnian Blues“. Es geht in diesen Liedern, die bis heute
beliebt sind und die Literatur in Bosnien und Herzegowina beeinflussen, stets
um unerfüllte Liebe und schmerzhafte Sehnsucht. Besonders das
„Karasevdah“-Lied, also das schwarze Sevdah-Lied, kann zu Tränen rühren. Der
Sevdah-Sänger und Gitarrist Damir Imamović begründet die Beliebtheit der
traurigen Lieder so: Die Lust an der Traurigkeit sei „Teil unseres kulturellen
Codes. Wir mögen es, uns selber Schmerz zu zufügen.“
Der Umgang der Mostarer mit ihrer
Vergangenheit erinnert an die leidenschaftliche Hingabe an den Liebesschmerz im
Karasevdah-Lied. In dieser Liedform kann man Hinweise auf kommunikative und
literarische Besonderheiten finden, die auch für das literarische Schreiben in
Mostar und der Herzegowina prägend sind. Die eloquente Auseinandersetzung mit
negativen Erfahrungen gehört dazu und ein Reden über Vergangenes, das gerade
nicht therapeutisch ist, sondern der fortwährenden Vergegenwärtigung von
Verlusterfahrungen dient. Der Mostarer Schriftsteller Marko Tomaš, geboren
1978, schreibt in den poetischen Miniaturen zu seiner Stadt, die 2010
entstanden sind:
„… Der grüne Körper des Flusses war in den glühenden
Sommermonaten die Feuertreppe und die Kraft, mit der wir aufwuchsen...
... Ein Geist. Das bin ich. Das ist es, was
jeder darstellt, der etwas sucht, was nicht länger existiert, etwas, was nie
wieder da sein wird. Alle, die die Stadt suchen, einen offenen, toleranten
Raum, ein respektables Zuhause und eine gelegentliche Rast am Weg.“
Die Stadt Mostar gleicht in dieser Passage
tatsächlich einer schönen Geliebten, an die geschmiegt man eine Ruhe fand, die
nun für immer verloren ist. Der – durch die Zerstörung der Stadt im Krieg
1992-1995 – zum rastlosen Geist gewordene Mostarer wandert in Tomašʼs Text
durch die Straßen und kommt zu immer drastischeren Vergleichen und Bildern:
„die Stadt ist ein psychotisches Konzentrationslager“, „ein Grab“, ein „Tal der
Tränen“. Schließlich gibt die von der rhythmischen Fortbewegung des Sprechenden
geprägte Beschreibung der Stadt anno 2010 einen direkten Hinweis auf ihre
Verwandtschaft mit der Musik:
„Das ist purer Blues.
Gebrochener Rhythmus.
Schritte auf dem Asphalt.
Dies ist die Zeit des Bluesʼ.“
Neben so ernsthaften
literarischen Projekten wie dem Marko Tomašʼs, welche der Trauer über die
Teilung der Stadt und den Verlust von Vertrauen und Möglichkeiten des
Zusammenlebens poetischen Ausdruck verleihen, gibt es in Mostar auch solche
Autoren, die ihr Werk in den Dienst nationalistischer Bestrebungen stellen. Sie
müssen wegen ihrer geringen literarischen Bedeutung nicht namentlich erwähnt
werden. Als ein gesellschaftlich unerfreuliches Phänomen arbeiten diese „Heimatdichter“
aber wesentlich daran mit, ethnische Gegensätze als unüberwindlich darzustellen
und eine „rein“ kroatische bzw. bosniakische (Erinnerungs-)Kultur zu behaupten.
Eine weitere Gruppe ist
jene der ganz jungen Autoren, die in den achtziger Jahren geboren sind und den
Krieg als kleines Kind miterlebten. Die Erinnerung an das vereinte Mostar vor
dem Ausbruch des Konflikts ist bei diesen Autoren schon weniger lebendig als
noch beim 1978 geborenen Marko Tomaš. Dementsprechend
steht die Trauer um das Verlorene in ihrem Werk oft weniger im Vordergrund als
die Auseinandersetzung mit den Absurditäten der Mostarer Gegenwart. Diese wird
zum Beispiel beim 1982 geborenen Schriftsteller und Übersetzer Mirko Božić
zynisch-ironisch formuliert. Neben der Tatsache, dass denkwürdig wenige
weibliche Schreibende im Licht der Öffentlichkeit stehen, ist dies wohl eines
der erstaunlichsten Phänomene der aktuellen Literatur in Mostar: Es gibt einen
Bruch in den Generationen, der sich ungefähr um das Geburtsjahr 1980 formiert.
Wenige Jahre Altersunterschied wirken sich hier so stark auf den literarischen
Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart aus, dass ein deutlicher poetologischer
Unterschied zu bemerken ist.
Dieser Bruch findet sich
in ähnlicher Form auch in der bosnisch-herzegowinischen Literatur im
Allgemeinen. In seinem Essay „Literatur, Trauma, Grenze“, der ebenfalls 2010 entstand,
betont jedenfalls der 1986 geborene Sarajevoer Autor und Essayist Marko Raguž
das Potential der ganz jungen Autorengeneration. Diese ist seiner Meinung nach
in ihrem Schaffen nicht mehr so stark an die Geister der Vergangenheit
gebunden. Denn sie hat keine lebendige Erinnerung des Krieges und der
Vorkriegszeit mehr. Raguž setzt sich in seinem Werk mit der kulturellen
Gegenwart Bosnien und Herzegowinas auseinander; dabei nimmt er keinen
betroffenen, sondern einen distanziert-theoretischen Standpunkt ein.
Die Beschreibung der
Gegenwart in seinem Essay deckt sich dabei an einigen Stellen sehr wohl mit den
Bildern, die Marko Tomašʼs Texte von Mostar entwerfen. Es handelt sich um eine
Welt, die nicht vertrauenswürdig ist. Nichts ist wirklich oder ausschließlich
so, wie es auf den ersten Blick scheint. Alle Elemente des öffentlichen Lebens
haben eine verborgene Seite, eine komplizierte Geschichte oder ein heimliches
Interesse. Wenn Tomaš von Geistern schreibt, die die Stadt bevölkern, drückt
dies dieselbe Unsicherheit aus über das, was wirklich ist, wie Ragužʼs Metaphern der Masken, Spiegel und
Schatten. Und beide Autoren versuchen dem mit einer verstärkten Beweglichkeit
zu begegnen, einem literarischen Reisen oder Spazierengehen.
Während bei Tomaš aber
mehr die Begegnung mit vergessenen Orten in Mostar im Vordergrund steht,
Schauplätzen seiner Kindheit, die durch Krieg und Teilung als Orte des
öffentlichen Lebens verloren gegangen sind, geht es Raguž um das Überschreiten
der verfestigten ethnischen Grenzlinien im Land. Der jüngere Autor glaubt daran,
dass diese Grenzen in und mit dem Medium der Literatur aufgebrochen werden
können. Er plädiert für das Lesen und Schreiben als Reisen durch die
„postapokalyptische Realität“ Bosnien und Herzegowinas. Denn das Reisen und
Sich-Begegnen ist im geteilten und zerstrittenen Land selten geworden.
Den Glauben an die hohe
Einflusskraft der Literatur teilt Raguž mit der Schriftstellerin Tanja
Stupar-Trifunović aus Banja Luka. Die 1977 geborene Dichterin und Journalistin befasst
sich in ihren Gedichten so eindrücklich wie geist- und humorvoll mit der
schwierigen Geschichte und Gegenwart des Landes. Wie Raguž erwägt sie die
(poetische) Sprache als rettenden Ort und Ersatzheimat.
Gemeinsame
Erinnerung – getrennte Erinnerung
Was nun heißt Erinnerung
in Mostar heute? Erinnerung ist immer individuell, und doch sind die
Verlusterfahrungen der Mostarer auf beiden Seiten der Stadt vergleichbar. Die,
in Ragužʼs Worten, Apokalypse, die vor 20 Jahren in Bosnien und Herzegowina
stattfand, ist eine gemeinsame Erfahrung fast aller Einwohner des Landes. Die
Autorengeneration, von der hier die Rede ist, war noch zu jung, um sich selbst
verbrecherischer Taten schuldig zu machen. Sie hat den Krieg im Kindes- oder
Jugendalter erlebt und daher gibt es hier nur das gemeinsame Leid und die
erzwungene Neuorientierung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit.
Gemeinsamkeiten in der
Erinnerung gestalten zu können, ist eines der wichtigsten Potentiale dieser
Schriftsteller und die Voraussetzung dafür, auch der Komplexität der Gegenwart
gerecht zu werden. Das ist eine Möglichkeit, die die Menschen in Mostar noch
nicht für sich entdecken konnten. Erinnerung in Mostar ist noch immer ein
getrenntes und „die Anderen“ ausschließendes Erinnern.