Montag, 3. September 2012

Geister der Gegenwart – Geister der Vergangenheit Erinnerung und Literatur in Mostar heute


(Dieser Essay von Sibylla ist, in etwas anderer Form, erschienen in: „Invent | tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina, hrsg. von Sibylla Hausmann und Karin Rolle, 2011.)


 „Wenn es eine Stadt gibt, die Stoff zum Schreiben hat, dann ist es Mostar.“
Veselin Gatalo, Autor, geboren 1967 in Mostar

Mostar heute
Was heißt Erinnerung in Mostar heute? Die gesamte Stadt mit ihren nach wie vor auffälligen Gebäudeschäden verweist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre, in der hier Krieg herrschte. Vergangenheit ist in Mostar sichtbar und greifbar, man nimmt sie sofort wahr. Verschiedene historische Schichten sind im Stadtbild augenfällig, osmanisch-habsburgisch-jugoslawisch. Diese befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls und der Zerstörung. Weil das Destruierte zu den primären Eindrücken von Mostar gehört, kann Erinnerung hier nur schmerzhaft sein.

Das ist nichts Neues. Die internationale Anteilnahme an Mostar seit 1995 ist groß. Seit Ende der 1990er Jahre ist die Stadt häufiges Objekt soziologischer Feldforschung, zahlreiche staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen aus aller Welt haben sich mit Mostar auseinandergesetzt. Sie haben Geld und Sachmittel gespendet, professionelle Beratung geleistet und Begegnungszentren und Vereine vor Ort gegründet. Neben der politischen und ökonomischen Stabilisierung war die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit und Verarbeitung von Kriegserlebnissen/-traumata eines der Hauptziele des internationalen Engagements. Unterhält man sich jedoch mit Einwohnern der Stadt, egal welchen Alters und welcher Herkunft, wird schnell klar, dass der gefühlte Erfolg dieser Maßnahmen gleich Null ist. Das hat viele Gründe. Mir scheint, dass schon die Idee problematisch ist, Mostar bei der Vergangenheitsbewältigung helfen zu wollen, indem Erinnerungen in Form eines kollektiven therapeuthischen Prozesses gesammelt und artikuliert werden. Vielleicht liegt es gerade aus deutscher Perspektive nah, zu denken, dass man die Mostarer dazu bringen muss, über den Krieg zu reden und in einem sogenannten „geschützen Raum“ ihre eigene Opfer- und Täterschaft zu rekapitulieren. Ein Raum, der von der eigentlichen Lebenswelt vor Ort abgehoben ist und künstlich erscheint.

Denn auch unaufgefordert reden die Menschen in Mostar viel über ihre Erfahrungen mit dem Krieg und auch über die weiter zurückliegende Vergangenheit der Stadt. Es gibt vielfältige Weisen des artikulierten Erinnerns, die, wie jeder kommunikative Akt, auf die Empfänger zugeschnitten sind. Eine davon ist die des Fremdenführers, welcher Reisenden die Zerstörung der Stadt präsentiert (die imposanten unter den Ruinengebäuden sind als Fotomotive fast genauso beliebt wie die alte Brücke). Diese Art des Erinnerns hat etwas von der Präsentation alter Volksbräuche und -riten für Reisende auf der Suche nach dem „Ursprünglichen“, Nachinszenierung eines rituellen Tanzes ums Feuer. Also die Befriedigung der Hör- und Schaulust des reichen Fremden für Geld. Das Gezeigte hat in diesem Kontext seine ursprüngliche Bedeutung komplett verloren. Aber nicht nur diese einseitige, praktisch motivierte Form des Redens über Vergangenes ist verbreitet. Auch der Beobachter mit tieferem Interesse und Vorkenntnissen, der sich mehr Zeit für Gespräche nimmt, wird bald feststellen, dass die Redebereitschaft und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Mostar sehr groß ist. Das Erinnern zeigt sich hier als ein alltäglicher performativer Akt des Umgangs mit Verlorenem. Es ist, als müsste das schmerzhaft Fehlende umkreist und immer neu vergegenwärtigt werden.

Mostar ist seit dem Krieg entlang ethnischer Trennungslinien in einen Ost- und Westteil geteilt. Im Westen wohnen mehrheitlich katholische „Kroaten“, im Ostteil muslimische „Bosniaken“. Heute treffen sich kroatische und bosniakische Jugendgangs in der Mitte zwischen den beiden Stadtteilen, dort, wo die Frontlinie verlief. In einem performativen Akt vollziehen sie, die Anfang der neunziger Jahre Kleinkinder oder noch gar nicht geboren waren, die gewaltsame Teilung der Stadt nach: Sie verprügeln sich vor dem Hintergrund einer (hauptteils konstruierten) Andersartigkeit. So buchstäblich kann schmerzhaftes Erinnern in Mostar sein. Gleichzeitig kommt in fast jedem Gespräch über die Vergangenheit der Stadt in stolzem Ton die Rede darauf, dass es hier vor dem Krieg die meisten „gemischten“ Ehen in ganz Bosnien und Herzegowina gab. Damit sind Ehen zwischen orthodoxen, katholischen und muslimischen Einwohnern gemeint.

Erinnerung in der Literatur
In dem dokumentarischen Film „Sevdah“ von Marina Andree (2009), der unter anderem in Mostar spielt, wird eine traditionelle, typisch bosnisch-herzegowinische Liedform vorgestellt, der sogenannte „Bosnian Blues“. Es geht in diesen Liedern, die bis heute beliebt sind und die Literatur in Bosnien und Herzegowina beeinflussen, stets um unerfüllte Liebe und schmerzhafte Sehnsucht. Besonders das „Karasevdah“-Lied, also das schwarze Sevdah-Lied, kann zu Tränen rühren. Der Sevdah-Sänger und Gitarrist Damir Imamović begründet die Beliebtheit der traurigen Lieder so: Die Lust an der Traurigkeit sei „Teil unseres kulturellen Codes. Wir mögen es, uns selber Schmerz zu zufügen.“

Der Umgang der Mostarer mit ihrer Vergangenheit erinnert an die leidenschaftliche Hingabe an den Liebesschmerz im Karasevdah-Lied. In dieser Liedform kann man Hinweise auf kommunikative und literarische Besonderheiten finden, die auch für das literarische Schreiben in Mostar und der Herzegowina prägend sind. Die eloquente Auseinandersetzung mit negativen Erfahrungen gehört dazu und ein Reden über Vergangenes, das gerade nicht therapeutisch ist, sondern der fortwährenden Vergegenwärtigung von Verlusterfahrungen dient. Der Mostarer Schriftsteller Marko Tomaš, geboren 1978, schreibt in den poetischen Miniaturen zu seiner Stadt, die 2010 entstanden sind:

„… Der grüne Körper des Flusses war in den glühenden Sommermonaten die Feuertreppe und die Kraft, mit der wir aufwuchsen...
... Ein Geist. Das bin ich. Das ist es, was jeder darstellt, der etwas sucht, was nicht länger existiert, etwas, was nie wieder da sein wird. Alle, die die Stadt suchen, einen offenen, toleranten Raum, ein respektables Zuhause und eine gelegentliche Rast am Weg.“

Die Stadt Mostar gleicht in dieser Passage tatsächlich einer schönen Geliebten, an die geschmiegt man eine Ruhe fand, die nun für immer verloren ist. Der – durch die Zerstörung der Stadt im Krieg 1992-1995 – zum rastlosen Geist gewordene Mostarer wandert in Tomašʼs Text durch die Straßen und kommt zu immer drastischeren Vergleichen und Bildern: „die Stadt ist ein psychotisches Konzentrationslager“, „ein Grab“, ein „Tal der Tränen“. Schließlich gibt die von der rhythmischen Fortbewegung des Sprechenden geprägte Beschreibung der Stadt anno 2010 einen direkten Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit der Musik:

„Das ist purer Blues.
Gebrochener Rhythmus.
Schritte auf dem Asphalt.
Dies ist die Zeit des Bluesʼ.“

Neben so ernsthaften literarischen Projekten wie dem Marko Tomašʼs, welche der Trauer über die Teilung der Stadt und den Verlust von Vertrauen und Möglichkeiten des Zusammenlebens poetischen Ausdruck verleihen, gibt es in Mostar auch solche Autoren, die ihr Werk in den Dienst nationalistischer Bestrebungen stellen. Sie müssen wegen ihrer geringen literarischen Bedeutung nicht namentlich erwähnt werden. Als ein gesellschaftlich unerfreuliches Phänomen arbeiten diese „Heimatdichter“ aber wesentlich daran mit, ethnische Gegensätze als unüberwindlich darzustellen und eine „rein“ kroatische bzw. bosniakische (Erinnerungs-)Kultur zu behaupten.

Eine weitere Gruppe ist jene der ganz jungen Autoren, die in den achtziger Jahren geboren sind und den Krieg als kleines Kind miterlebten. Die Erinnerung an das vereinte Mostar vor dem Ausbruch des Konflikts ist bei diesen Autoren schon weniger lebendig als noch beim 1978 geborenen Marko Tomaš.  Dementsprechend steht die Trauer um das Verlorene in ihrem Werk oft weniger im Vordergrund als die Auseinandersetzung mit den Absurditäten der Mostarer Gegenwart. Diese wird zum Beispiel beim 1982 geborenen Schriftsteller und Übersetzer Mirko Božić zynisch-ironisch formuliert. Neben der Tatsache, dass denkwürdig wenige weibliche Schreibende im Licht der Öffentlichkeit stehen, ist dies wohl eines der erstaunlichsten Phänomene der aktuellen Literatur in Mostar: Es gibt einen Bruch in den Generationen, der sich ungefähr um das Geburtsjahr 1980 formiert. Wenige Jahre Altersunterschied wirken sich hier so stark auf den literarischen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart aus, dass ein deutlicher poetologischer Unterschied zu bemerken ist.

Dieser Bruch findet sich in ähnlicher Form auch in der bosnisch-herzegowinischen Literatur im Allgemeinen. In seinem Essay „Literatur, Trauma, Grenze“, der ebenfalls 2010 entstand, betont jedenfalls der 1986 geborene Sarajevoer Autor und Essayist Marko Raguž das Potential der ganz jungen Autorengeneration. Diese ist seiner Meinung nach in ihrem Schaffen nicht mehr so stark an die Geister der Vergangenheit gebunden. Denn sie hat keine lebendige Erinnerung des Krieges und der Vorkriegszeit mehr. Raguž setzt sich in seinem Werk mit der kulturellen Gegenwart Bosnien und Herzegowinas auseinander; dabei nimmt er keinen betroffenen, sondern einen distanziert-theoretischen Standpunkt ein.

Die Beschreibung der Gegenwart in seinem Essay deckt sich dabei an einigen Stellen sehr wohl mit den Bildern, die Marko Tomašʼs Texte von Mostar entwerfen. Es handelt sich um eine Welt, die nicht vertrauenswürdig ist. Nichts ist wirklich oder ausschließlich so, wie es auf den ersten Blick scheint. Alle Elemente des öffentlichen Lebens haben eine verborgene Seite, eine komplizierte Geschichte oder ein heimliches Interesse. Wenn Tomaš von Geistern schreibt, die die Stadt bevölkern, drückt dies dieselbe Unsicherheit aus über das, was wirklich ist, wie Ragužʼs Metaphern der Masken, Spiegel und Schatten. Und beide Autoren versuchen dem mit einer verstärkten Beweglichkeit zu begegnen, einem literarischen Reisen oder Spazierengehen.
Während bei Tomaš aber mehr die Begegnung mit vergessenen Orten in Mostar im Vordergrund steht, Schauplätzen seiner Kindheit, die durch Krieg und Teilung als Orte des öffentlichen Lebens verloren gegangen sind, geht es Raguž um das Überschreiten der verfestigten ethnischen Grenzlinien im Land. Der jüngere Autor glaubt daran, dass diese Grenzen in und mit dem Medium der Literatur aufgebrochen werden können. Er plädiert für das Lesen und Schreiben als Reisen durch die „postapokalyptische Realität“ Bosnien und Herzegowinas. Denn das Reisen und Sich-Begegnen ist im geteilten und zerstrittenen Land selten geworden.

Den Glauben an die hohe Einflusskraft der Literatur teilt Raguž mit der Schriftstellerin Tanja Stupar-Trifunović aus Banja Luka. Die 1977 geborene Dichterin und Journalistin befasst sich in ihren Gedichten so eindrücklich wie geist- und humorvoll mit der schwierigen Geschichte und Gegenwart des Landes. Wie Raguž erwägt sie die (poetische) Sprache als rettenden Ort und Ersatzheimat.

Gemeinsame Erinnerung – getrennte Erinnerung
Was nun heißt Erinnerung in Mostar heute? Erinnerung ist immer individuell, und doch sind die Verlusterfahrungen der Mostarer auf beiden Seiten der Stadt vergleichbar. Die, in Ragužʼs Worten, Apokalypse, die vor 20 Jahren in Bosnien und Herzegowina stattfand, ist eine gemeinsame Erfahrung fast aller Einwohner des Landes. Die Autorengeneration, von der hier die Rede ist, war noch zu jung, um sich selbst verbrecherischer Taten schuldig zu machen. Sie hat den Krieg im Kindes- oder Jugendalter erlebt und daher gibt es hier nur das gemeinsame Leid und die erzwungene Neuorientierung unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit.
Gemeinsamkeiten in der Erinnerung gestalten zu können, ist eines der wichtigsten Potentiale dieser Schriftsteller und die Voraussetzung dafür, auch der Komplexität der Gegenwart gerecht zu werden. Das ist eine Möglichkeit, die die Menschen in Mostar noch nicht für sich entdecken konnten. Erinnerung in Mostar ist noch immer ein getrenntes und „die Anderen“ ausschließendes Erinnern.