nachdem du dich im letzten Brief mit den gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schaffens im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr politischem Engagement aus dem Bella triste-Artikel beschäftigt hast, möchte ich was zu Genre-Fragen schreiben. Es verdichten sich nämlich Erlebnisse, die mit einer Rechtfertigung von Lyrik zu tun haben.
Dass Lyrik gesellschaftlich und im Buchhandel kaum präsent ist, ist ja sowieso offensichtlich. Obwohl man es auch manchmal vergessen könnte, wenn man sich etwas in der Szene bewegt, die ja wiederum sehr lebendig ist und viele gute Organe hat. Aber sie ist doch sehr abgeschottet und auch elitär. Die meisten Menschen haben weder strukturellen noch emotionalen Zugang zu lyrischen Texten. Man hat verlernt, etwas damit anzufangen. Daraus ergibt sich automatisch, dass man zur Botschafterin für Lyrik wird, sobald man sich ihr in irgendeiner Form widmet. So hat mich die Zweitbetreuerin meiner Dissertation darauf aufmerksam gemacht, dass ich spätestens bei der Verteidigung gefragt würde, warum ich mich überhaupt mit Lyrik beschäftige, das sei doch nicht zeitgemäß.
Diese Erfahrungen hast du bestimmt schon viel früher gemacht, weil du ja zum Beispiel schon deine Magisterarbeit über Lyrik geschrieben hast. Aber mir gefällt der Gedanke, alleine durch die Themenwahl zur Erhaltung dieses traditionsreichen und spannenden Genres beizutragen, das ganz andere sprachliche Möglichkeiten bietet als Prosa.
Liebe Grüße aus dem heute hochsommerlichen Berlin,
deine Eva
Montag, 30. Mai 2011
Sonntag, 15. Mai 2011
alles geordnet wie ein pfeilschwarm
die vögel die sich einsortierten aufflatterten
ihre geschwindigkeit mit ganz sichren flügeln
aufnahmen & dann in die rauten ihres
glasdachs – mein kopf lag wie von selbst
im nacken noch bevor das bild eintraf
dieser verzug mit dem bewegungen
sich in die muster einpassen – akkord
folgen in taktgitter gesperrt daran
lag es aber nicht – koinzidenz von knipsbild
& rhythmus die dumme vertraute idee
die von der seite kam im augenwinkel
unter den fahrtgeräuschen liegen blieb
murmel in der kuhle sanfte rotation
& dann perfekt frostüberzogen baum
-schulen – abgesprochen unvermutet
stöbern: fiese kleine geister
von Katharina Schultens
Katharina Schultens * 1980 in Kirchen, Rheinland-Pfalz lebt in Berlin. Sie hat Kulturwissenschaften in Hildesheim, St. Louis und Bologna studiert und arbeitet als Referentin im Bereich Forschungsverwaltung an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2004 erschien ihr Lyrikband "Aufbrüche" im Rhein-Mosel-Verlag und sie veröffentlicht regelmäßig Lyrik sowie poetologische Texte in Zeitschriften (u.a. bella triste, randnummer, ostragehege) und Anthologien (u.a. Lyrik von Jetzt II, Neubuch). Außerdem wurde sie unter anderem mit dem Georg-K.-Glaser-Förderpreis 2007 ausgezeichnet. Gerade ist ihr zweiter Lyrikband erschienen, "gierstabil" bei luxbooks. Mehr dazu hier http://www.luxbooks.de/buecher/gierstabil
ihre geschwindigkeit mit ganz sichren flügeln
aufnahmen & dann in die rauten ihres
glasdachs – mein kopf lag wie von selbst
im nacken noch bevor das bild eintraf
dieser verzug mit dem bewegungen
sich in die muster einpassen – akkord
folgen in taktgitter gesperrt daran
lag es aber nicht – koinzidenz von knipsbild
& rhythmus die dumme vertraute idee
die von der seite kam im augenwinkel
unter den fahrtgeräuschen liegen blieb
murmel in der kuhle sanfte rotation
& dann perfekt frostüberzogen baum
-schulen – abgesprochen unvermutet
stöbern: fiese kleine geister
von Katharina Schultens
Katharina Schultens * 1980 in Kirchen, Rheinland-Pfalz lebt in Berlin. Sie hat Kulturwissenschaften in Hildesheim, St. Louis und Bologna studiert und arbeitet als Referentin im Bereich Forschungsverwaltung an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2004 erschien ihr Lyrikband "Aufbrüche" im Rhein-Mosel-Verlag und sie veröffentlicht regelmäßig Lyrik sowie poetologische Texte in Zeitschriften (u.a. bella triste, randnummer, ostragehege) und Anthologien (u.a. Lyrik von Jetzt II, Neubuch). Außerdem wurde sie unter anderem mit dem Georg-K.-Glaser-Förderpreis 2007 ausgezeichnet. Gerade ist ihr zweiter Lyrikband erschienen, "gierstabil" bei luxbooks. Mehr dazu hier http://www.luxbooks.de/buecher/gierstabil
Samstag, 30. April 2011
Liebe Eva,
der Begriff Bionadebiedermeier scheint sich wachsender Beliebtheit zu erfreuen, ich hatte ihn, trotz meiner Distanz zum deutschen Sprachraum, auch schon mehrmals gehört und nun kürzlich in der BELLA triste gelesen. Sein Reiz besteht in der Alliteration und seinem oxymoronischen Charakter, da Bio-Produkte bis vor einigen Jahren noch für eine alternative und fortschrittliche Lebensweise standen, das Gegenteil also von konservativem Biedermeiertum. In der BELLA triste 29 behauptet Paul Bodrowski, dass "die Gegenwartsliteratur primär von Klavierunterrichtnehmern und Bionadebiedermeier durchdrungen ist", also von Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Mittelschicht. Surprise! Sind doch mindestens bürgerliche Existenzbedingungen Voraussetzung, um sich mit Unterstützung, Zeit und Muße der Literatur widmen zu können. Die verbreitete, mehr oder weniger gefakte Autorenbiografie (welche Biografie ist nicht gefakt?) "hat sich als Mitglied einer Jugendgang, Gärtner, Kellner, Postbote... durchgeschlagen, bevor er sich als freier Schriftsteller etablierte", finde ich Kitsch, bürgerlichen. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen Kitsch.
In Bodrowskys Essay geht es in erster Linie darum, dass in gegenwärtiger deutschsprachiger Prosa der übermächtige Gegner eines repressiven Herrschaftssystems als dramatisches Element fehle. Bodrowsky ist der Meinung, dass das eben nicht an der freiheitlichen deutschen Gesellschaft liege, sondern daran, dass sich Autoren wie Figuren der Texte im Mittelschichtmilieu bewegen, in dem staatliche Repression und Existenznot wenig zu spüren sind. Da ist etwas dran... und trotzdem, nach fast zwei Jahren Mostar muss ich sagen, Deutschland geht es gut und es kümmert sich doch um alle ein bisschen. Es ist ein Unterschied, ob es um mehr oder weniger geht oder - wie hier - um nichts oder weniger als nichts. Es ist ein Unterschied, ob man sich als Mitglied einer breiten bürgerlichen Mittelschicht Gedanken über die Grenzen seines eigenen geistigen Horizonts macht, oder ob man in einem Land aufgewachsen ist, in dem gar keine einflussreiche Mittelschicht existiert. Von Vorteil für die Literatur ist das jedenfalls nicht.
Diese Überlegungen als Wort zum morgigen Tag der Arbeit. Der ist hier so beliebt, dass man, da er auf einen Sonntag fällt, gleich Montag und Dienstag mit als Feiertage ausgerufen hat. Wenigstens etwas fürs Volk.
Liebe Grüße,
Sibylla
Montag, 18. April 2011
Altweibersommer
Die Spinnweben
verfangen in ihrem Haar
flechten Sonnenstrahlen
zu einem perlmuttfarbenen
Schleier
Da war die Küche
sagt sie
händekreisend zu
einem Ofen formend
teigverklebte Fingerspitzen
lachen die letzten Sonnenstrahlen
aus
Da wo früher die Küche
jetzt die Spinnweben
zaghaft
Erinnerungen verschleiern
sagt sie
Da wohnt mein Kind
meine Seele
verkrustet
begräbt sie die Stille
verkriecht sich
in geflochtenem Stein.
Dorothee Baumann *1985 in Stuttgart, lebt in Mostar. Nach Studienaufenthalten in Münster, Lille (Frankreich) und Twente (Niederlande) unterrichtet sie heute als Lektorin der Robert Bosch Stiftung an der Universität Džemal Bijedić in Mostar Germanistik. Seit Januar 2010 gibt sie mit zwei KollegInnen des Lipa South East Europe Networks e.V. das Online-Magazin Post aus Südost heraus. www.postaussoe.de
Samstag, 26. März 2011
Liebe Sibylla,
ich freue mich dieses Jahr wieder sehr, dass der Frühling angefangen hat. In unserem Hof werden Sträucher gepflanzt, die natürlich noch etwas spärlich aussehen, aber kommende Wirkung andeuten. Es ist eine gute Zeit für Umbrüche. Im Büro sind meine letzten fünf Wochen angebrochen und einerseits kann ich mir gar nicht vorstellen, nicht mehr dort zu sein, andererseits freue ich mich auf die neue Aufgabe, die unter anderem mit mehr Freiheit verbunden ist. So habe ich die Hoffnung auf mehr Mußestunden. Zu dem Thema habe ich neulich auch ein kleines Gedicht geschrieben, das ich dir schon geschickt habe, aber hier nochmal einfügen möchte:
Halt, hiergeblieben
eine Verantwortung hat
süßen Speck mit Grübchen
und überströmende Augen
die ankommen wollen
emsig begangene Wege
nun breiter werdend
führen eventuell zum
ersten Auto und und und
die Muße dreht sich
winkend nochmal um
Über das Auto als Symbol für Unabhängigkeit und ein geregeltes Einkommen musste ich länger nachdenken. Auf eine Art finde ich das Bild nicht ganz zutreffend - davon abgesehen, dass es unoriginell und unlyrisch ist, weil ein Auto eigentlich Luxus ist und es erstmal schon als Erfolg gelten sollte, überhaupt finanziell unabhängig zu sein. Andererseits macht ein Auto als Anreiz mehr Spaß als das pure Überleben, auch wenn es der Beginn einer materiellen Spirale ist. Allgemein verliert das Auto als Statussymbol an Bedeutung, wie ich in der Agentur immer wieder höre. Ich selbst hätte trotzdem lieber ein Auto als zum Beispiel ein Smartphone (hm, hinkt etwas, weil es nicht die gleiche Preiskategorie ist). Meine Kollegin spricht übrigens immer vom Bionade-Biedermeier, was ich für die heutigen 30- und 40-jähringen sehr passend finde.
Dir auch eine gute Mischung aus Muße und Mühe wünschend, grüßt
deine Eva
P.S. Danke für die Ermutigungen aus deinem letzten Brief!
Halt, hiergeblieben
eine Verantwortung hat
süßen Speck mit Grübchen
und überströmende Augen
die ankommen wollen
emsig begangene Wege
nun breiter werdend
führen eventuell zum
ersten Auto und und und
die Muße dreht sich
winkend nochmal um
Über das Auto als Symbol für Unabhängigkeit und ein geregeltes Einkommen musste ich länger nachdenken. Auf eine Art finde ich das Bild nicht ganz zutreffend - davon abgesehen, dass es unoriginell und unlyrisch ist, weil ein Auto eigentlich Luxus ist und es erstmal schon als Erfolg gelten sollte, überhaupt finanziell unabhängig zu sein. Andererseits macht ein Auto als Anreiz mehr Spaß als das pure Überleben, auch wenn es der Beginn einer materiellen Spirale ist. Allgemein verliert das Auto als Statussymbol an Bedeutung, wie ich in der Agentur immer wieder höre. Ich selbst hätte trotzdem lieber ein Auto als zum Beispiel ein Smartphone (hm, hinkt etwas, weil es nicht die gleiche Preiskategorie ist). Meine Kollegin spricht übrigens immer vom Bionade-Biedermeier, was ich für die heutigen 30- und 40-jähringen sehr passend finde.
Dir auch eine gute Mischung aus Muße und Mühe wünschend, grüßt
deine Eva
P.S. Danke für die Ermutigungen aus deinem letzten Brief!
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