Montag, 30. Mai 2011

Liebe Sibylla,

nachdem du dich im letzten Brief mit den gesellschaftlichen Bedingungen des literarischen Schaffens im Zusammenhang mit der Forderung nach mehr politischem Engagement aus dem Bella triste-Artikel beschäftigt hast, möchte ich was zu Genre-Fragen schreiben. Es verdichten sich nämlich Erlebnisse, die mit einer Rechtfertigung von Lyrik zu tun haben.

Dass Lyrik gesellschaftlich und im Buchhandel kaum präsent ist, ist ja sowieso offensichtlich. Obwohl man es auch manchmal vergessen könnte, wenn man sich etwas in der Szene bewegt, die ja wiederum sehr lebendig ist und viele gute Organe hat. Aber sie ist doch sehr abgeschottet und auch elitär. Die meisten Menschen haben weder strukturellen noch emotionalen Zugang zu lyrischen Texten. Man hat verlernt, etwas damit anzufangen. Daraus ergibt sich automatisch, dass man zur Botschafterin für Lyrik wird, sobald man sich ihr in irgendeiner Form widmet. So hat mich die Zweitbetreuerin meiner Dissertation darauf aufmerksam gemacht, dass ich spätestens bei der Verteidigung gefragt würde, warum ich mich überhaupt mit Lyrik beschäftige, das sei doch nicht zeitgemäß.

Diese Erfahrungen hast du bestimmt schon viel früher gemacht, weil du ja zum Beispiel schon deine Magisterarbeit über Lyrik geschrieben hast. Aber mir gefällt der Gedanke, alleine durch die Themenwahl zur Erhaltung dieses traditionsreichen und spannenden Genres beizutragen, das ganz andere sprachliche Möglichkeiten bietet als Prosa.

Liebe Grüße aus dem heute hochsommerlichen Berlin,

deine Eva