Mittwoch, 15. Dezember 2010

Das Haus

Ich ging um das Haus zu sehen
Im Krieg verwenden Dichter oft das Motiv des Hauses schrieb eine Kritikerin
Im Krieg war ich keine Dichterin sondern ein Kind
das sein Haus verlor
mir war überhaupt nicht traurig zumute
zuerst freute mich die Veränderung
eine andere Stadt andere Menschen
die Verzweiflung der Eltern wunderte mich
es gebe auch Häuser außer diesem Haus glaubte ich
Ich redete Unsinn
Erinnerungen werden von Häusern gehalten wie eine Kirsche von ihrem Stiel
sie werden reif und man spuckt ihren harten Kern aus und isst das Schmackhafte
Häuser sind nur trübe Moraste dunkle Flure Geister in der Flasche
der wahre Ort der Seele ist die Kreuzung an der immerzu der Wind neuer Anfänge bläst
Mit den Jahren dachte ich immer mehr an das Haus
Es erschien mir im Traum
seine Flure seine Türen seine Fenster
Es dauerte lange bis ich begriff dass ich wegen des Hauses unglücklich bin
und dass ich nicht weiterleben kann ohne hinzugehen und mich neben ihm auszuweinen
Das Haus ist groß und weiß die Sonne dringt ins Glas die Hitze brennt
ich stehe vor dem Haus und weine
Das ist ihr Haus sagt mein Mann zu unbekannten Leuten
sie wundern sich und zucken mit den Schultern
Hier hat sie mal gelebt sie will es nur sehen alles in Ordnung sie will nur das Haus sehen
Ich betrachte das Haus
Ein blonder Junge rennt an mir vorbei es ist mein Bruder
es ist nicht mein Bruder mein Bruder ist jetzt ein Mann und lebt in einer anderen Stadt
Das Haus ist ein Labyrinth ich darf es nicht betreten das leere Innere könnte mich verschlingen
ich betrachte es nur von außen es umarmt mich und stößt mich weg
das ist mein Haus
Wie alle Erinnerungen in ein paar Minuten Platz haben
das Überspringen des Zauns
der Gully neben der Wand die Garage der Brunnen
der Pflaumenbaum ist kleiner geworden sage ich unter Tränen
alles ist kleiner geworden
ich bin ohne das Haus mit den weißen Wänden aufgewachsen
Nie mehr möchte ich ein Haus haben
wir kaufen eine Wohnung


von Tanja Stupar-Trifunović
Deutsch von Alida Bremer

Tanja Stupar-Trifunović *1977 in Zadar (Kroatien), lebt und arbeitet als Journalistin und Dichterin in Banja Luka (Bosnien und Herzegowina), sie veröffentlichte seit 1999 mehrere preisgekrönte Gedichtbände. Durch Übersetzungen ihrer Gedichte u.a. ins Englische, Deutsche und Polnische ist sie auch international präsent, 2010 trat sie auf dem internationalen literaturfestival berlin auf.