Freitag, 24. September 2010

Liebe Sibylla,

ich nehme jetzt erstmal das Versehrtheitsthema wieder auf. Ich gebe dir Recht, dass es für Literatur generell eine Rolle spielt und vor allem die poetische Qualität von Mostar gut trifft. Das spannende an der heutigen Situation finde ich, dass seit der Katastrophe schon wieder einige Zeit vergangen ist. Dieser Zustand zwischen Heilung und Sichtbarkeit der Narben. Versehrtheit ist per se natürlich ein großer Begriff, der auf viele literarische Situationen zutreffen könnte – von Krankheit bis Krieg. Das sind beides menschliche Extremsituationen und dankbarer Stoff für Literatur. Neulich habe ich in irgendeinem Interview gelesen, große Romane könne nur schreiben, wer etwas Extremes erlebt habe. Dem möchte ich nicht zustimmen, Phantasie sollte da einiges wettmachen können. Aber menschliches Leid genau wie Glück findet sich in Geschichten und Gedichten natürlich zugespitzt wieder. Es ist ja auch interessanter und leichter zu beschreiben als das normale Grau. Irgendwas stört mich aber auch an dem Versehrtheits-Begriff. Ich glaube, er ist mir persönlich etwas zu negativ – aber wer möchte schon versehrt sein? - und das Schreiben darüber hat so einen leicht therapeutischen Beigeschmack - aber Therapie ist natürlich auch nötig. Es ist einfach deprimierend, über Krieg nachzudenken und durch immer noch sichtbare Wunden daran erinnert zu werden. Kannst du aus der Versehrtheit an sich für dich persönlich eine poetische Inspiration ziehen?

Über Versehrtheit bin ich noch mal auf die Begriffe Verletzlichkeit, Suggestibilität und Zeitgeist gekommen. In meiner Magisterarbeit habe ich entdeckt, dass Hysterie in dem Roman "Was ich Liebte" von Siri Hustvedt als Metapher für diese drei menschlichen Konditionen verwendet wird. Diese Begriffe sind allgemeiner als Versehrtheit und weniger gewaltsam, sie beschreiben eher, welchen Einflüssen und Abhängigkeiten man täglich ausgesetzt ist, aber eben auch, welche große Rolle die Zeit und die Umgebung, in der man lebt, spielen.

Ich denke gerade oft sehr konkret über meinen unmittelbaren Wohnort nach, weil wir eventuell umziehen. Zum Glück nur innerhalb von Berlin. Von Anfang bis Mitte zwanzig hatte ich ständig Angst, am falschen Ort zu wohnen und dadurch irgendwelche Chancen zu verpassen. Jetzt haben wir endlich eine schöne, praktische, bezahlbare Wohnung im richtigen Viertel gefunden, aber dunkel. Gerade an diesen wenigen Spätsommertagen (heute ist wahrscheinlich der letzte warme Tag für dieses Jahr) nehme ich ganz bewusst Abschied vom Licht, das von draußen rein scheint, denn das wird nächsten Frühling, wenn alles klappt, nicht wiederkommen.

Ach, ich habe übrigens diese Woche das Patti Smith-Buch zu Ende gelesen. In Mostar war ich ja auch schon eine Weile dran. Es hat also lange gedauert und war auch manchmal etwas zäh. Aber ich habe es sehr gerne gelesen. Gerne würde ich mehr von ihren Gedichten lesen. Am Ende musste ich sogar ein bisschen weinen, als Robert an AIDS gestorben ist. Einen Satz mochte ich insgesamt besonders. Er steht, nachdem Smith beschreibt, wie sie  und ihre frisch gefundenen Mitmusiker das erste Mal zum Zuhören im CBGB landen: „Though no one knew it, the stars were aligning, the angels were calling.“ Es ist schon bemerkenswert, wie unbedingt Patti Smith und Robert Mapplethorpe als Künstler berühmt werden wollten. Nur hatte Patti nicht damit gerechnet, dass es bei ihr als Sängerin sein würde. Bei den beiden waren Umfeld und Zeit natürlich auch entscheidend. Um werden zu können, was sie wurden, mussten sie schon nach NYC gehen.

Liebe Grüße nach Mostar,

deine Eva