Montag, 18. Februar 2013

Platanen-Blues

Was ist eine Baumreihe?
Die Baumreihe ist die Harfe der Stadt.
Wie wird die Sünde gemessen?
In Kilowatt?
Woraus besteht der Mensch?
Aus Wasser.
Sind wir Blut?
Wir sind Blut.
Sind wir Herz?
Wir sind Musik.
Wie hast du geschlafen?
Albträumerisch.
Woraus ist nun das Holz?
Das Holz kommt vom Wind.


Gedicht von Marko Tomaš

übersetzt aus dem Bosnisch-Kroatisch-Serbischen
von Elvira Omerika und Sibylla Hausmann

Marko Tomaš, *1978 in Ljubljana, Slowenien, lebt heute als Autor und Journalist in der geteilten Stadt Mostar, Bosnien und Herzegowina. Er war schon in zahlreichen verschiedenen Orten in ganz Ex-Jugoslawien zu Hause. Die Themen "Verortungen" und "Reisen" sind somit auch wesentlich für sein literarisches Schaffen. Er veröffentlichte bisher fünf Gedichtbände. Seine Poesie wurde bereits ins Englische, Deutsche, Französische, Italienische und Polnische übersetzt.

Freitag, 8. Februar 2013

Zwischen Kreuzberg und Mitte

Eine dieser seltsam separierten inner-städtischen Straßen
sie kommen ganz plötzlich, eben noch Café an Plattenladen
jetzt alte Frauen und der einzige Bäcker bietet Internet

Eine Brache liegt im Dämmerlicht
hohes Gras, Holzreste, loses Gebüsch
in der Ferne eine Silber-Pappel
und zwei Einkaufswagen, einer klein und einer groß
stehen eng beieinander
wie die weidende Stute mit ihrem Fohlen

Dienstag, 29. Januar 2013

Liebe Eva,

"Familie ist als Herausforderung nicht zu unterschätzen", schön hast du das gesagt. Da fällt mir die Stelle in "Karte und Gebiet" ein, in der sich Houellebecq böse über das Thema auslässt: "Manche Menschen versuchten sich während der aktivsten Zeit ihres Lebens zu Mikrogruppierungen names Familien zusammenzuschließen, die die Reproduktion der Gattung zum Ziel hatten; aber diese Versuche schlugen meist aus Gründen fehl, die mit dem Wesen der Zeiten zutun hatten". Interessant ist diese Stelle allemal, v.a. in der erst drastisch, dann aber doch realistisch wirkenden Einschätzung, dass Familien meistens scheitern. Nicht ganz klar ist jedoch, was mit "Wesen der Zeiten" gemeint ist. Wahrscheinlich die gegenwärtige ultra-individualistische Tendenz, die dem Prinzip des engen familiären Zusammenschlusses konträr gegenüber steht. Eines Prinzips, das Kompromissbereitschaft, wenn nicht gar so etwas wie Selbstlosigkeit, "Demut", erfordert, jedenfalls die Unterordnung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse unter das Wohl eines "Ganzen".

Heute habe ich überlegt, ob ich jetzt eigentlich in Leipzig wohnhaft bin, oder vielleicht doch in Leipzig UND Mostar (das liest man doch oft: "Dedede wohnt in Köln und Rom"...)? Immerhin haben wir dort ein Haus, dessen Wände in meinen Lieblingsfarben gestrichen sind. Und wir haben auch vor, regelmäßig dorthin zurückzukehren. Ich vermisse Mostar, Bosnien im Allgemeinen, fühle mich an das Land gebunden. Aber dieses Gefühl der Leichtigkeit, das mich überkommt, wenn ich in Sarajevo aus dem Flugzeug steige, besteht zum Teil auch daraus, dass es eben nicht mein Heimatland ist, ein bisschen geheimnisvoll, ein Fluchtort, an dem ich noch "Mensch sein" kann. Und der Alltag dort war dann doch hart, wirklich hart. Und: Ich habe, besonders als ich in Mostar lebte, auch meine unschöne Geburtsregion manchmal vermisst. Die weiten Felder, Waldwege, Moos und Moder und Kornblumen und sich akkumulierende Windräder um Wolfsburg herum. Zu Hause bin ich dort aber lange nicht mehr. Was für ein komplizierter, emotionaler Knoten diese Zugehörigkeit zu bestimmten Orten doch ist!

Liebe Grüße,
Sibylla

Dienstag, 15. Januar 2013

seeblick


seeblick                 defektes tastfeld mit einem
wisch wären wir leicht und fett wie ausgestorbene so weich in öl-in-wasser-emulsion
das meer, das abgekartete

Gedicht von Charlotte Warsen

Charlotte Warsen, *1984 in Recklinghausen, lebt in Berlin. Sie studierte Kunst, Philosophie und Amerikanistik an der Kunstakademie Düsseldorf (Klassen Lüpertz und Tal R), in Köln und Finnland. Seit 2011 Promotionsprojekt in der Philosophie. Veröffentlichungen in Zeitschriften (u.a. randnummer, Bella triste) und Anthologien; Finalistin beim 19. Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin. www.charlottewarsen.de

Freitag, 28. Dezember 2012

Ausbruch der Madonnen

In gesprenkelte Helligkeit
brachen sie aus. Kirchenlicht
fürs Jenseits geschminkt.
Eine Gnadenbildmadonna
eine Madonna mit dem Kinde
eine einstmals mit dem Kinde
eine sterbende Madonna
fielen aus dem Steingemäuer
jener Art Verlies, gewöhnlich
von Stiefmüttern bewohnt
und ausgedienten Hexen.
Die Heizkörper lehnten
an den Kirchenbänken
die Klempner verschwanden
in die Brotzeit. Ich blieb allein
das Schiff schwankte im Schweigen.
Da regte sich ein blasses
steinzerkratztes Wesen
da rollte zag aus dem Versteck
die Letzte ihrer Reihe:
Vesperbildmadonna,
den toten Jesu steif im Arm
plumpste hölzern mir zu Füßen –
vor meine Füße, Frau Äbtissin!
Spät lag ich wach an diesem Tag
sah meine Zehen an,
zehn kleine Wunder.

Gedicht von Nora Bossong

aus der Anthologie "Poesie und Stille", Wallstein Verlag, 2009.

Nora Bossong, *1982 in Bremen, lebt heute in Berlin. Sie studierte Kulturwissenschaft, Philosopie und Literatur an vielen Orten, u.a. in Rom und in Leipzig, am Deutschen Literaturinstitut. Nora Bossong schreibt Lyrik und Prosa, sie hat in beiden Genres bereits mehrere Einzelveröffentlichungen. Zuletzt erschien 2012 der Roman "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" im Hanser Verlag.