Samstag, 29. September 2012

Kondorlied

nie gesehen, höchstens schwach
ich kannte diese Schwäche aus der Nachbarschaft

     da stand ein Kleintierzoo vor vielen Jahren 
     im Wald am Elternhaus, ein Fertighaus                      
     ich zog vor vielen Jahren aus
     ich zog vor vielen Jahren aus
     die Gitter fielen, doch die Tiere blieben                                          
     mit ihren Muskeln war etwas geschehn
     war ihr Verlangen nicht mehr anzuspannen

viel später wurde ich geboren
mal spielten wir Kojoten jagen                         
mal nach Kojotenknochen graben                             
fast hätte ich verloren


Gedicht von Georg Leß

Georg Leß *1981 in Neheim, lebt in Berlin. Er hat in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht (u.a. Edit, Lichtungen, randnummer, Jahrbuch der Lyrik).

Donnerstag, 20. September 2012

Liebe Eva,

in deinem letzten Brief hast du dich noch einmal an deine allererste "Ella-Nachricht" an mich erinnert, was einen schönen Rahmen bildet, denn mit Beginn der Herbstsaison eröffnen wir ein neues Kapitel: "Liebe Ella" hat sich mit upgedatetem Aussehen und dem Label "Ausflüge" verjüngt und erweitert.

In Mostar ist es inzwischen herbstlich, ein Wetter, wie man es sich schöner nicht wünschen kann: Sonnenschein bei so genannten Wohlfühltemperaturen, dazu die melancholisch fallenden Blätter, diesigen Morgenstunden und goldgelben Farben. Auf meinen täglichen Spaziergängen schlägt mein Herz oft schneller, wenn ich die Schönheit der Stadt unverhofft wahrnehme. Und ich glaube, auch die Mostarer haben ihren Sinn dafür nicht verloren, so sehr sie über ihre Stadt schimpfen (wie sie heute ist, denn früher, vor dem Krieg, war fast alles besser - und das stimmt natürlich auch). So sieht man z.B. häufig alte "Mostarci" auf den Neretvabrücken stehen und stundenlang auf den Fluss herabschauen, wer Zeit hat, hält sich auf der Straße auf und genießt die Sonne und eine der vielen schönen Stadtansichten.

Da unterscheiden sich die Mostarer nicht viel von den Touristen. Was dann allerdings auch die einzige Gemeinsamkeit wäre. Die Touristen halten alles mit der Kamera fest, auch die Einschusslöcher, die sie aufregend finden, während die Mostarer sich für sie schämen. Die Touristen bewegen sich schneller und hektischer und man sieht, wie sie mit der Eindrucksfülle zu kämpfen haben. Sie schleppen viel mit sich herum, wohingegen ich bei den Einheimischen das Gefühl habe, dass es ein No-Go ist, sich mit etwas anderem als Einkäufen oder dem obligatorischen Damenhandtäschchen in der Fußgängerzone zu zeigen. Vielleicht hat es etwas damit zutun, dass man sich von den Roma deutlich abheben will, die überall zu sehen sind - Sammel- und Bettelware schleppend oder in alten Kinderwagen schiebend. Auch das gepflegte Aussehen der Menschen (rasierte und gegelte Männer, geschminkte und gefönte Frauen) hat vielleicht etwas mit Abgrenzung von den Roma zutun. Oder von den "Seljaci" - den bäuerlichen Landbewohnern, über die jeder Städter, jede Städterin, eine abfällige Bemerkung parat hat. Übrigens machen die Seljaci, die großteils tatsächlich noch sehr abgeschieden und traditionell leben, Bosnien und Herzegowina mehr als alles andere aus, denn es ist eine seit jeher sehr ländlich geprägte Gegend. Aber von ihnen hört man ja außer Vorurteilen nur wenig.

Die betont gepflegten Stadtbewohner also sind hier in Mostar mit den Touris aus dem "reichen, fortschrittlichen Westen" konfrontiert - was manchmal ein paradoxes Zusammentreffen ist. Denn vor allem die jungen Leute, die nach Mostar kommen, sehen oft arg verwahrlost aus. Wie ein Student eben mit Backpack und Urlaubsbart, barfuss, in Hippielaune, immer den Tabaksbeutel zur Hand. Aber das superteure Laptop eben auch. Fragt nach dem günstigsten Hostel oder schläft gar am Fluss. Und ist dabei doch unendlich viel reicher als die meisten Leute hier. Irgendwann steht er vielleicht mal in Anzug und Krawatte einer Firma vor oder wird Professor mit Traumeinkommen. Ich glaube, dass die Mostarer beim Anblick so Mancher ziemlich befremdet sind, denn sie wissen ja vom Wohlstand derer, die optisch eher in ihre "Roma-Schublade" passen. Befremdet im wahrsten Sinne des Wortes. Klar kennt man den Schlabberlook aus dem Fernsehen, hier gibt es ja ausreichend amerikanische, deutsche, französiche etc. TV-Kanäle. Trotzdem trägt der Unterschied im Styling viel dazu bei, dass das kulturelle Fremdverständnis auf beiden Seiten eher schlecht ist und das bosnische Bild vom Deutschen sowie das deutsche vom Bosnier stark klischeebehaftet sind.

Dazu im nächsten Brief mehr. Ich hoffe, es geht dir gut und freue mich, bald von dir zu hören.

Deine Sibylla . 

Montag, 3. September 2012

Neu! - Ausflüge

Mit dem Essay "Geister der Gegenwart - Geister der Vergangenheit. Erinnerung und Literatur in Mostar heute" starten wir ab sofort ein neues Label in "Liebe Ella". Unter dem Titel "Ausflüge" gibt es in unregelmäßigen Abständen Zusatzinformationen, in Form von Essays und Kritiken - oder auch mal Fotos etc. Damit möchten wir unser bewährtes Format der Briefe, Gastbeiträge und eigenen Gedichte um einige Kontexte erweitern und hoffen, unseren Leserinnen und Lesern eine Freude zu bereiten.

Geister der Gegenwart – Geister der Vergangenheit Erinnerung und Literatur in Mostar heute


(Dieser Essay von Sibylla ist, in etwas anderer Form, erschienen in: „Invent | tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina, hrsg. von Sibylla Hausmann und Karin Rolle, 2011.)


 „Wenn es eine Stadt gibt, die Stoff zum Schreiben hat, dann ist es Mostar.“
Veselin Gatalo, Autor, geboren 1967 in Mostar

Mostar heute
Was heißt Erinnerung in Mostar heute? Die gesamte Stadt mit ihren nach wie vor auffälligen Gebäudeschäden verweist auf die erste Hälfte der 1990er Jahre, in der hier Krieg herrschte. Vergangenheit ist in Mostar sichtbar und greifbar, man nimmt sie sofort wahr. Verschiedene historische Schichten sind im Stadtbild augenfällig, osmanisch-habsburgisch-jugoslawisch. Diese befinden sich in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls und der Zerstörung. Weil das Destruierte zu den primären Eindrücken von Mostar gehört, kann Erinnerung hier nur schmerzhaft sein.