Sonntag, 18. September 2011

    diese sich neigenden Gräser /
NATURA EROTICA. alles schwimmt
    und das Wort Diplomatie
drängt sich auf. auch für diesen Nachmittag:
    1–2 Brisen Wind
bei diskreten achtzehn, neun-
zehn Grad
...

von Thien Tran

Thien Tran * 1979 in Ho Chi Minh-Stadt, † 2010 in Paris lebte länger in Köln und veröffentlichte in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.  2008 erhielt er den Lyrikpreis beim Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin. Sein Buch „Fieldings“ erschien 2009 beim Verlagshaus J. Frank. Mehr auf http://www.poetenladen.de/thien-tran.htm

Freitag, 9. September 2011

Liebe Sibylla,

die Sache mit den Todesanzeigen ist faszinierend. Sie sind mir, als ich dich letztes Jahr besucht habe, auch besonders aufgefallen. Ich finde es eigentlich sehr angemessen, die ganze Stadt für eine Weile damit zu tapezieren. Nur in der Zeitung, vielleicht in nur einer, einen Tag, das geht ja total unter. Nach so einem ganzen Leben darf die Verabschiedung schon etwas länger dauern. Der unterschiedliche Umgang mit Tod wird auch in der US-amerikanischen Fernseh-Serie „Six Feet Under“ thematisiert, mit der ich gerade angefangen habe. Ist der Serien-Hype eigentlich auch in Bosnien angekommen? Hier werden sie jetzt wie Filme diskutiert. Diese aufwendig produzierten, anspruchsvollen Serien sind zu einem eigenen Genre geworden.

Auf die Bücher, die du mir in Aussicht gestellt hast, bin ich schon gespannt. Du brauchst sie aber nicht extra zu schicken. Ich komme ja noch dieses Jahr, um deinen Sohn kennen zu lernen, yuhuu!

So noch ein paar Lektüre-Eindrücke: „Adler und Engel“ von Juli Zeh fand ich gut, aber auch ein bisschen zu überspitzt, bemüht. Der Haupteindruck war das sehr Körperliche. Interessant finde ich, wie Zeh ihr Rechtswissen eingebaut hat. Houellebecq, „Karte und Gebiet“ gewohnt düster, hart und desillusionierend, aber so konsequent, intelligent und lustig, dass man sich gern darin suhlt. Besondere Pointe: er selbst und Frédéric Beigbeder sind Figuren. Jonathan Franzens „Freedom“ ist richtig gut – super Figuren, sehr unterhaltsam und lebendig, beeindruckende Gesellschaftsanalyse. Man hätte es bestimmt auch kürzer erzählen können, aber die Details machen so viel Spaß, dass man sie nicht missen möchte, im Gegenteil, man will die Figuren eigentlich nicht gehen lassen. Gerade lese ich „Great House“ von Nicole Krauss, das auch gut ist, aber nach Franzen etwas abfällt. Es ist mir noch zu dramatisch verdichtet. Außerdem gab es am Anfang eine Irritation mit dem Buch an sich, die sich langsam legt. Es roch schlecht. Neu von Amazon. Das habe ich echt noch nie erlebt und es ist total störend. Es ist kein starker Geruch, aber unangenehm. Bevor ich ihn geortet habe, dachte ich kurz, es läge eine tote Maus unterm Bett.

Hm, jetzt habe ich mit Tod angefangen und aufgehört und das obwohl du doch gerade so frisch mit seinem Gegenteil verbunden bist…

Viele Grüße nach Mostar

deine Eva

Samstag, 27. August 2011

KLEINÖD


asymmetrisch vom morgen
stakst die poetin durch
die von pflichttätern
sporadisch durchzuckten gassen

liest tragische küche und wittert
nach der geeigneten lücke
zum parken des to-go-brötchens
im mund von gebläsehotels

stocken blechherden sausen
wohin wohin, fragt sie, wenn
der hunger auf wiesen verpackt ist
in fliesen und dekorläden

sie imitiert den schritt
der zielhaber, memoriert:
christos ist fotomodell
und kleinöd nennt sich city

the cloudspeaker whispers hier
geht’s zur leistungspizza!

und nur ein vorbeigejoggtes
junges sieht durch ihr lächeln

das törichte lechzen nach


von Karin Fellner


Karin Fellner * 1970 in München hat Psychologie in Konstanz sowie Literaturwissenschaften in München studiert und arbeitet dort als Autorin, Schreibcoach und Lektorin, unter anderem in Projekten des Lyrik Kabinetts und des Literaturhauses München. Für ihre Lyrik erhielt sie verschiedene Preise: 2005 den Förderpreis beim Leonce-und-Lena-Wettbewerb in Darmstadt, 2006 den Förderpreis für Lyrik der Internationalen Bodenseekonferenz und 2008 den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften sind bislang drei Gedicht-Einzelbände erschienen, zuletzt "hangab zur kehle" (yedermann Verlag, München 2010). 

Donnerstag, 18. August 2011

Liebe Eva,

gestern und heute zwei Hinweise darauf, dass ich langsam zur wahrhaftigen Mostarerin werde. 1. ich erschrecke nicht im Geringsten, wenn unsere Katze eine riesige Heuschrecke anschleppt (mindestens von der Größe eines Teelöffels), sondern nehme sie ihr einfach weg und entsorge sie ohne mit der Wimper zu zucken, 2. ich fange an, Todesanzeigen zu lesen. Das Interesse daran, wer wann woran gestorben ist, ist hier sehr groß und kommt niemandem morbide vor. Sondern eben normal. Man checkt morgens als erstes seine Facebookseite und eben mal schnell im Netz, wer so Neues gestorben ist. Todesanzeigen werden stets Din A 4 gedruckt und in der ganzen Stadt verteilt - und handelt es sich um einen interessanten Tod, etwa einen Jungen, der in der Neretva ertrunken ist oder einen Selbstmord - muss man manchmal anstehen, um einen Blick auf den Aushang ergattern zu können. Darauf ist ein Foto zu sehen und die Lebensdaten; auch die Beerdingungszeiten stehen meistens darauf und die Abfahrtszeit des Busses zum Friedhof, den die Familie für die Trauergäste bestellt hat. Kommen kann jeder, der sich berufen fühlt, eine große Trauergemeinde ehrt traditionell die Toten und deren Familie. Auch bei Trauerblättern gibt es natürlich die allgegenwärtige "ethnische Differenzierung", Christen bekommen ein Kreuz und einen schwarzen Trauerrand, Muslime einen Mond und einen grünen Trauerrand. Interessanterweise gibt es in diesem Genre auch noch Atheisten, bzw. Kommunisten, die haben dann einen Stern und eine rote Umrandung (aber auch nur hier, im Tod, darf manchmal vom christlich-muslimischen Gegensatz abgesehen werden, ansonsten wird er ja ausnahmslos angewendet zur Verortung einer Person, egal ob diese religiös ist oder kommunistisch oder esoterisch oder was auch immer).

Etwas anderes: Neulich bin ich auf die österreichische Literatur- und Kunstzeitschrift "Lichtungen" gestoßen, in deren neuester Ausgabe auch Vesna Lubina, unser Gastbeitrag vom Juni, vertreten ist. Der Blick nach Österreich lohnt sich immer, gerade wenn man ein Interesse am Balkan hat, der dort durch seine einflussreiche Wiener Diaspora sehr präsent ist. Ein kontinuierlicher Schwerpunkt der Lichtungen ist dann auch südosteuropäische Literatur, dieses Jahr besonders der Kosovo, dessen kleine zeitgenössische Szene ich, seit dem Polip-Lyrikfestival in Pristina im letzten Herbst, interessant finde. Kürzlich habe ich zusammen mit Lucia Zimmermann, die ja auch das Festival initiiert und organisiert hatte, einen bosnisch-kosovarischen Autorenaustausch mit den jungen Autor/innen Lamija Begagić aus Sarajevo und Imer Mushkolaj aus Pristina durchgeführt. Die beiden haben einen Essay über ihre Begegnung geschrieben, der ins Deutsche übersetzt wurde und zusammen mit weiteren Essays publiziert werden wird. Mit Lamijas "bosnischem" Text trainiere ich gerade ein bisschen meine Sprachkenntnisse - auf die Gesamtpublikation auf Deutsch bin ich derweil schon sehr gespannt. Ich halte dich auf dem Laufenden, vielleicht muss ich dir einmal die ganzen kleinen Publikationen, an denen ich hier beteiligt bin (z.B. auch den Polip-Band und die Publikation zu zeitgenössischer Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina) und die man in Deutschland nicht so einfach bekommt, gesammelt schicken. Ich mache es, wenn ich den Essay-Band auch habe.

Liebe Grüße aus dem heißen Mostar,
Sibylla

Samstag, 23. Juli 2011

ein gedecktes viertel basar

dass du mich suchst in den animierten stoffen
                                      in den werkstätten für
gefälschte leguane vielleicht siehst du mich
einen armreif entlang huschen
wo begrenzte zweifel in die zeit gedrechselt
und einen hand gewebten sesamkringel
zwischen den zähnen
das verstaubte mundstück einer wasserpfeife
schau nach in den gewürzherbergen
                              den labyrinthen aus schwestern
und drapierten brüdern ich fliese dir wandhoch
einen weg
aus iznik-kacheln
                                         als lastenträger baufälliger
himmelskörper


von Achim Wagner


Achim Wagner *1967 in Coburg, lebt als freier Autor in Köln und Ankara. Seit April 2011 moderiert er (gemeinsam mit Nico Sandfuchs) eine regelmäßige Reihe von Literaturgesprächen im Goethe-Institut Ankara. Mehrere literarische Auszeichnungen, so in 2009 das sechsmonatige Istanbulstipendium der Kunststiftung NRW. Als letzter Einzeltitel erschien 2011 sein Gedichtband "flugschau" im [SIC] – Literaturverlag (http://tubuk.com/book/flugschau).