Dienstag, 3. Januar 2012

Liebe Sibylla,

ich habe meine Eindrücke von Mostar im November noch ein bisschen nachwirken lassen und durch zweierlei Lektüre ergänzt: Eures Bands „Invent | tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina“ (Hg. Sibylla Hausmann und Karin Rolle 2011) und Juli Zehs „Die Stille ist ein Geräusch“ von 2003. Als Juli Zeh 2001 durch Bosnien und Herzegowina gereist ist, um das Reisebericht-Buch zu schreiben, war der Krieg erst seit fünf Jahren vorbei, die internationalen Friedenstruppen noch im Land und Tourismus nicht üblich. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Zerstörung ist mir die enorme Aufbauleistung das erste Mal aufgegangen. Bislang fand ich eher eindrucksvoll, dass es noch so viele Ruinen gibt, die man weder wieder herrichtet noch abreißt. Auch wenn sich seit 2001 schon viel getan hat, wird sowohl oberflächlich als auch in eurem Band deutlich, wie lange der Krieg zerstörend nachwirkt– wie Verlust und Teilung Alltag, Erinnerung und Kulturproduktion prägen.

Ansonsten fand ich es gut, von Juli Zeh Selbstbesuchtes noch mal beschrieben zu bekommen und festzustellen, dass es auch Konstanten gibt. Zum Beispiel das spezielle Grün der Neretva, das man direkt aus eurem Fenster sehen kann, und für das Zeh über das ganze Buch die richtige Bezeichnung sucht, um schließlich in Chirurgengrün die größte Annäherung zu finden. Auch die Steine der Bogumilen (eine mittelalterliche Abspaltung des Christentums), bei denen wir in der Nähe von Stolac bei unserem Ausflug angehalten haben, kommen vor. Und sie dienen übrigens doch als Grabsteine… Ich hänge mal ein Foto an. Und voraus stelle ich ein kleines Reise-Gedicht, das ich noch in Mostar angefangen hatte. Ach, und lustig fand ich auch, dass Juli Zeh während ich ihr Buch gelesen habe Gast bei „Hart aber Fair“ war (ich wusste vorher gar nicht, wie sie aussieht). Sie war als Gegnerin des Gesundheitszwangs da und gerade schwanger.

Viele Grüße

deine Eva

P.S. Wie du wahrscheinlich weißt, gab es in Berlin immer noch keinen Schnee und die Weihnachtsdeko muss langsam weg.



Im Südosten

Es ist wirklich ab
gedroschen. Doch
kann es nicht oft
genug betont wer
den. Wie anders
alles ist. Wenn die
Sonne scheint. Heu
te erhellt sie einen
gestern noch düster
en Fluss. Wehendes
Blattschattenspiel in
den Fensterbögen.
Die Kraft der Sonne.
Diese Wirkung
überrascht mal wie
der. Und macht heute
das Fremde so viel
freundlicher. Das Was
ser rauscht unablässig.
Dielen knarren. Mal
Katzen mal Hunde.
Und der Muezzin
singt zur Stunde. War
um nicht in das kleine
Turmzimmer rein.

Montag, 19. Dezember 2011

Es riecht nach Schnee...

Es riecht nach Schnee, der Sonnenapfel hängt
so schön und rot vor meiner Fensterscheibe;
wenn ich das Fieber jetzt aus mir vertreibe,
wird es ein Wiesel, das der Nachbar fängt,
und niemand wärmt dann meine kalten Finger.
Durchs Dorf gehn heute wohl die Sternensinger
und kommen sicher auch zu meinen Schwestern.
Ein wenig bin ich trauriger als gestern,
doch lange nicht genug, um fromm zu sein.
Den Apfel nähme ich wohl gern herein
und möchte heimlich an der Schale riechen,
bloß um zu wissen, wie der Himmel schmeckt.
Das Wiesel duckt sich wild und aufgeschreckt
und wird vielleicht nun doch zum Nachbar kriechen,
weil sich mein Herz so eng zusammenzieht.
Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet,
wenn man zu schwach ist, um hinaufzukommen?
Den Apfel hat schon jemand weggenommen …
Doch eigentlich ist meine Stube gut
und wohl viel wärmer als ein Baum voll Schnee.
Mir tut auch nur der halbe Schädel weh
und außerdem geht jetzt in meinem Blut
der Schlaf mit einer Blume auf und nieder
und singt für mich allein die Sternenlieder.


Gedicht von Christine Lavant


Christine Lavant (eigentlich Habernig, geb. Thonhauser) *1915 in Groß Edling, gestorben 1973 in Wolfsberg (beides Kärnten, Österreich), aus einer armen Bergarbeiterfamilie stammend, veröffentlichte zu Lebzeiten mehrere Gedicht- und Erzählungsbände. In ihren Texten greift sie auf volkstümliche Motive zurück, die ihr als Basis einer komplexen poetischen Symbolik dienen. Immer wieder drehen sich ihre Texte um die Themen Tod, Geburt, Hoffnung und "Unheimlich-Heiliges". Deshalb erscheint dieses Jahr im Dezember, passend zur Adventszeit, mit "Es riecht nach Schnee..." ausnahmsweise ein Gedicht, das nicht von einer Gegenwartslyrikerin stammt. Das Thema "Verortungen" spielt für Lavant, die sich als Autorin nach ihrer Heimatgegend, dem Lavanttal, benannt hat, eine entscheidende Rolle. Die unzertrennliche Verbundenheit mit ihrer Heimatgegend war für sie Fluch und künstlerisches Material zugleich.

Dienstag, 15. November 2011

mappa

was ist der wohnort? der wohnort ist
eine kreuzzehn. was ist die kreuzung?

in der verkorksten mundart der wälder
ist die kreuzung das wort baum. warum

spielen heimatländer in den lüften karten?
niemand hat die länder je nach hause gehn

sehn. ein baum im wald der nähesprache
ist im kartenspiel die zehn. aus seinem holz

werden auf der karte kreuze gemacht.
die länder tragen hier ihren wohnort ein,

dann legen sie die feder ins mäppchen
zurück. was ist ein mäppchen? zurück.

mit nelly sachs

Gedicht von Uljana Wolf


Uljana Wolf *1979 in Berlin, lebt als Lyrikerin und Übersetzerin in Berlin und Brooklyn. Für ihre beiden bisher veröffentlichten Gedichtbände spielen sprachliche und räumliche Verortungen eine wesentliche Rolle. In "kochanie ich habe brot gekauft" (2005) besonders in Hinsicht auf die deutsch-polnische Beziehung und in "falsche freunde" (2009) in Hinsicht auf den deutsch- und den englischsprachigen Raum. Im poet mag 10 wurde sie von Jan Kuhlbrot zum Thema Schreiben und Orte interviewt, hier nachzulesen: http://www.poetenladen.de/jan-kuhlbrodt-uljana-wolf.htm.

Montag, 7. November 2011

Liebe Eva,

heute ist der erste richtig regnerische Tag in Mostar, der voraussichtlich eine lange Reihe von Regentagen einleiten wird, an denen es zwar nicht kalt, dafür aber draußen richtig ungemütlich sein wird. In unserer neuen Wohnung haben wir einen Ofen und wenn es auch noch den ganzen Tag lang ein bisschen blitzt und dauerdonnergrummelt ist es hier drinnen schön gemütlich. Trotzdem bin ich froh, dass die Zeit des Frierens und Sonnenentzugs jetzt erst so langsam anfängt, denn das Schlimmste am deutschen Winter ist ja, dass man Anfang Februar schon vier triste Monate hinter sich hat und immer noch nicht wirklich ein Ende in Sicht ist. Die saisonbedingte Verstimmung hält sich dadurch mit etwas Glück in Grenzen. Ich freue mich schon sehr auf deinen Besuch in zwei Wochen und finde es auch gut, dass du Mostar diesmal zu einer ganz anderen Jahreszeit, von einer ganz anderen Seite kennenlernen wirst. Wenig Touristen, vielleicht mit Dauergewittern und Wolken, die unbewegt in den Bergen hängen und die Welt ganz klein werden lassen.
Meine Lektüren in der letzten Zeit sind spärlich, was nicht nur daran liegt, dass ich hier mit Büchern, v.a. natürlich mit Büchern auf Deutsch, schlecht versorgt bin. Wenn ich mal eine Minute Ruhe habe, surfe ich im Internet oder gucke einen Film, weniger aus einem Interesse heraus als aus einer stupiden Lust auf Unterhaltung ohne Anstrengung (von der Beliebtheit gut gemachter Fernsehserien habe ich in letzter Zeit schon gehörte, aber mich bis jetzt selber noch keiner gewidmet. Kannst du mir eine zum Einstieg besonders empfehlen?). Schöner ist jedoch immer, ein Buch zu lesen. Das Gefühl, sich sinnvoll beschäftigt zu haben und auf neue Gedanken gekommen zu sein bleibt. Im Prosaheft der Edit vom Frühjahr habe ich noch einmal herumgeblättert und den Essay von Norbert Hummelt ein zweites Mal gelesen, ihn wieder gemocht in seinem Understatement. Und die These, dass Lyrik schreiben besser für das seelische Gleichgewicht ist und die Arbeit am Roman zu Depression und Selbstmord führen kann, ist doch recht ungewöhnlich. Der Lyriker Hummelt wendet so jedenfalls geschickt den Ratschlag zum Roman ab, denn eine solche Verantwortung möchte natürlich niemand auf sich laden.

Noch immer Regen und über dem Fluss fliegen Möwen hin und her.

Bis bald,
Sibylla