Mittwoch, 26. Juni 2013

Ausflüge auf dem Sofa: Stefanie Kempers „Orte – Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen“


Reisen tut Lyrikern gut. Das ist nicht erst erwiesen, seit Stiftungen aller Couleur Programme anbieten, in denen sie Schriftstellerinnen mit einem Reisestipendium in die Welt schicken und ihre neuen Eindrücke literarisch umsetzen lassen. Besonders für das Schreiben von Gedichten ist es wichtig, Darstellungsmöglichkeiten mit dem Blick auf ein neues, ungewohntes – und ungewöhnliches    Äußeres zu erweitern.
Ohne von Naturlyrik zu sprechen, spendet der Blick auf die Natur im weiteren Sinne (auch der urbanen), Lyrikerinnen und Lyrikern neue Möglichkeiten des Begreifens und Beschreibens von inneren oder abstrakten Begebenheiten. Im Falle des Gedichtbandes „Orte – Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen“ von Stefanie Kemper (2011 im Wiesenburg Verlag erschienen) ist das deutlich zu spüren. Da die 1944 geborene Stefanie Kemper auch Biologin ist, hat sie noch einen besonderen, sozusagen professionellen Bezug zur Natur als lebendiger Umgebung. Wenn in ihren Gedichten Begriffe und Sätze wie „gauchheil“, „wundklee“ und „arenga will hoch hinaus“ auftauchen, ahnt man, dass die Lyrikerin Kemper über ein eigenes Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten verfügt: Naturbilder löst sie erst analytisch auf und entwickelt dann ihre Metaphern. Dabei kann sie auf das Wissen über verborgene Vorgänge oder die Bedeutung von (z.B. botanischen) Fachbegriffen zurückgreifen. Eine beeindruckende Bildlichkeit entsteht, wenn Biologin und Lyrikerin Hand in Hand gehen, etwa  in dem Gedicht „oliven“

oliven

hier liegen oliven noch auf schwarzen netzen.
rollen eine zur andern als triebe die angst sie
zusammen. der absturz von schmaler terrasse
zu tal. als würden violette ziegen die
zitzen verlieren. starker westwind jagte vom
meer herauf und den berg herab, riss sie vom ast.

im dunkel des schattens zwischen den
sonnenflecken ruhen sie aus. vom stamm verlassen
dessen zweige schon wieder mit blüten im licht sind.
die strenge mutter sieht ihren früchten nicht nach.
so eine alte mit gedrehtem klumpfuß auf kalk. seit
eh hat sie standrecht, duldet gauchheil und klee.

So geschlossen das Konzept des Gedichtbands als Auseinandersetzung mit verschiedensten Orten ist – der erste Part des vierteiligen Buches befasst sich mit mediterranen Gegenden, der zweite mit deutschen, der dritte führt dann nach Nordamerika und der vierte nach Asien – so unterschiedlich sind die enthaltenen Texte formal und inhaltlich. Ein Teil der Gedichte setzt sich z.B. mit dem Ortswechsel, also dem Reisen an sich auseinander („nachtflug“, „taxifahrt“, „flug am hochzeitstag“ und weitere). Diesen ist eine eher skizzenhafte, flüchtige Erscheinung gemein, passend zur schnellen Fortbewegung ist ihre Diktion minimalistisch („1 verwurschtelte decke / 1 blick über becher und wolken / x stunden / zwischen heimat und / neuland“).

Andere Texte des Bandes, auf die im Umschlagstext als Kurzprosa verwiesen wird, nehmen mehr Platz ein.  Sie schildern einen Ort mittels dort vor sich gehender Ereignisse, etwa den „elefantenpark von pinnawela“ oder ein „starbucks“ Café. Hier ist die Sprache konkreter und weniger kunstvoll verdichtet, eine Geschichte wird erzählt, die meist eine finale Pointe enthält. Wenn beispielsweise in „kinder in einem dorf“, ein lebendiges Bild der kindlichen Lebenswelt irgendwo in der südostasiatischen Provinz entsteht und das schicksalhafte Ende dann lautet: „die fahrräder bekommen flügel und fliegen / zur nächsten ganz großen stadt“

Eine weitere dominante Gedichtform im Buch verbindet die besonderen Merkmale eines Ortes additiv miteinander. Viele Einzelheiten ergeben zusammen genommen ein genaues Bild. Diese Gedichte ähneln in ihrer Detailfülle Fotos oder mehr noch Gemälden. Denn während ein Foto nur einen Überblick geben könnte (es wäre nicht mehr als ein beliebiges Urlaubsfoto, das das eine zeigt und das andere zwangsläufig im Schatten verschwinden lässt), werden hier alle wesentlichen Details fokussiert. Gerade wenn zu diesem Kompositionsprinzip, das eine Überfülle an organischen und anorganischen Gegenständen zeigt, noch ein leicht „morbider“ Gestus hinzukommt, muss man an Stillleben denken, etwa in „strand, tropisch“:

strand, tropisch

wo steine, der fels, der busch mit roten schlundigen
blüten, der fächer der palme, das blatt, die fallende
frucht, die faulende schale des kokosbaumes,
verfärbtes plastik, der seitwärts eilende krebs, papier,
die flasche, der sand, vertrocknete blätter, der bruch
von korallen von muscheln von bambus,
verfaulendes holz, verdorrtes, ein schuh, ein
handtuch, ein kind und noch eins, der schwimmer
das boot, der stein, der fels, der sand und wieder
der sand      -     den wassermassen im wege ist.

Kempers stilllebenhafte Reisegedichte findet man v.a.  im letzten, asiatischen Teil des Bandes. Sie ermöglichen eine intensive Begegnung mit dem Exotischen. Das lyrische Stilmittel der Aufzählung wirkt rhythmisierend und erzeugt beim Lesen einen „Sog“. Fast begibt sich die Leserin, der Leser selbst auf Fernreise und in die nicht einfache Lage, viele neue Eindrücke zugleich verarbeiten zu müssen.
Diese „lyrischen Stillleben“ lassen an andere zeitgenössische Gedichte denken, z.B. an Marion Poschmanns „Verschlossene Kammern“ – wer diese mag, sollte den hier besprochenen Band nicht verpassen.

Stefanie Kempers „Orte“ sind deshalb so entdeckenswert, weil sie auf hohem Niveau viel Abwechslung in der dichterischen Bearbeitung des Themas bieten. Nicht nur sehr unterschiedliche Orte werden gezeigt, auch verschiedenste Sprachstile und Stimmungen, hier ernst und nachdenklich, dort heiter und satirisch, hier kunstvoll und dort schlicht. Ein schöner, ausbalancierter Gedichtband, der zu gedanklichen Ausflügen vom Sofa aus einlädt.


Rezension von Sibylla Vričić Hausmann


Stefanie Kemper: Orte – Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen. Wiesenburg Verlag 2011.