Reisen tut Lyrikern gut. Das ist nicht erst erwiesen, seit Stiftungen aller Couleur Programme anbieten, in denen sie Schriftstellerinnen mit einem Reisestipendium in die Welt schicken und ihre neuen Eindrücke literarisch umsetzen lassen. Besonders für das Schreiben von Gedichten ist es wichtig, Darstellungsmöglichkeiten mit dem Blick auf ein neues, ungewohntes – und ungewöhnliches – Äußeres zu erweitern.
Ohne von Naturlyrik zu sprechen, spendet der Blick auf die Natur im weiteren Sinne (auch der urbanen), Lyrikerinnen und Lyrikern neue Möglichkeiten des Begreifens und Beschreibens von inneren oder abstrakten Begebenheiten. Im Falle des Gedichtbandes „Orte – Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen“ von Stefanie Kemper (2011 im Wiesenburg Verlag erschienen) ist das deutlich zu spüren. Da die 1944 geborene Stefanie Kemper auch Biologin ist, hat sie noch einen besonderen, sozusagen professionellen Bezug zur Natur als lebendiger Umgebung. Wenn in ihren Gedichten Begriffe und Sätze wie „gauchheil“, „wundklee“ und „arenga will hoch hinaus“ auftauchen, ahnt man, dass die Lyrikerin Kemper über ein eigenes Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten verfügt: Naturbilder löst sie erst analytisch auf und entwickelt dann ihre Metaphern. Dabei kann sie auf das Wissen über verborgene Vorgänge oder die Bedeutung von (z.B. botanischen) Fachbegriffen zurückgreifen. Eine beeindruckende Bildlichkeit entsteht, wenn Biologin und Lyrikerin Hand in Hand gehen, etwa in dem Gedicht „oliven“
oliven
hier liegen oliven noch auf schwarzen netzen.
rollen eine zur andern als triebe die angst sie
zusammen. der absturz von schmaler terrasse
zu tal. als würden violette
ziegen die
zitzen verlieren. starker
westwind jagte vom
meer herauf und den berg
herab, riss sie vom ast.
im dunkel des schattens
zwischen den
sonnenflecken ruhen sie
aus. vom stamm verlassen
dessen zweige schon wieder
mit blüten im licht sind.
die strenge mutter sieht
ihren früchten nicht nach.
so eine alte mit
gedrehtem klumpfuß auf kalk. seit
eh hat sie standrecht,
duldet gauchheil und klee.
So geschlossen das Konzept des Gedichtbands als Auseinandersetzung
mit verschiedensten Orten ist – der erste Part des vierteiligen Buches befasst
sich mit mediterranen Gegenden, der zweite mit deutschen, der dritte führt dann
nach Nordamerika und der vierte nach Asien – so unterschiedlich sind die
enthaltenen Texte formal und inhaltlich. Ein Teil der Gedichte setzt sich z.B. mit
dem Ortswechsel, also dem Reisen an sich auseinander („nachtflug“, „taxifahrt“,
„flug am hochzeitstag“ und weitere). Diesen ist eine eher skizzenhafte, flüchtige
Erscheinung gemein, passend zur schnellen Fortbewegung ist ihre Diktion
minimalistisch („1 verwurschtelte decke / 1 blick über becher und wolken / x
stunden / zwischen heimat und / neuland“).
Andere Texte des Bandes, auf die im Umschlagstext als Kurzprosa verwiesen
wird, nehmen mehr Platz ein. Sie
schildern einen Ort mittels dort vor sich gehender Ereignisse, etwa den
„elefantenpark von pinnawela“ oder ein „starbucks“ Café. Hier ist die Sprache
konkreter und weniger kunstvoll verdichtet, eine Geschichte wird erzählt, die
meist eine finale Pointe enthält. Wenn beispielsweise in „kinder in einem
dorf“, ein lebendiges Bild der kindlichen Lebenswelt irgendwo in der
südostasiatischen Provinz entsteht und das schicksalhafte Ende dann lautet:
„die fahrräder bekommen flügel und fliegen / zur nächsten ganz großen stadt“
Eine weitere dominante Gedichtform im Buch verbindet die
besonderen Merkmale eines Ortes additiv miteinander. Viele Einzelheiten ergeben
zusammen genommen ein genaues Bild. Diese Gedichte ähneln in ihrer Detailfülle Fotos
oder mehr noch Gemälden. Denn während ein Foto nur einen Überblick geben könnte
(es wäre nicht mehr als ein beliebiges Urlaubsfoto, das das eine zeigt und das
andere zwangsläufig im Schatten verschwinden lässt), werden hier alle
wesentlichen Details fokussiert. Gerade wenn zu diesem Kompositionsprinzip, das
eine Überfülle an organischen und anorganischen Gegenständen zeigt, noch ein
leicht „morbider“ Gestus hinzukommt, muss man an Stillleben denken, etwa in
„strand, tropisch“:
strand, tropisch
wo steine, der fels, der busch mit roten schlundigen
blüten, der fächer der palme, das blatt, die fallende
frucht, die faulende schale des kokosbaumes,
verfärbtes plastik, der seitwärts eilende krebs, papier,
die flasche, der sand, vertrocknete blätter, der bruch
von korallen von muscheln von bambus,
verfaulendes holz, verdorrtes, ein schuh, ein
handtuch, ein kind und noch eins, der schwimmer
das boot, der stein, der fels, der sand und wieder
der sand - den wassermassen im wege ist.
Kempers stilllebenhafte Reisegedichte findet man v.a. im letzten, asiatischen Teil des Bandes. Sie ermöglichen
eine intensive Begegnung mit dem Exotischen. Das lyrische Stilmittel der Aufzählung
wirkt rhythmisierend und erzeugt beim Lesen einen „Sog“. Fast begibt sich die
Leserin, der Leser selbst auf Fernreise und in die nicht einfache Lage, viele
neue Eindrücke zugleich verarbeiten zu müssen.
Diese „lyrischen Stillleben“ lassen an andere zeitgenössische
Gedichte denken, z.B. an Marion Poschmanns „Verschlossene Kammern“ – wer diese
mag, sollte den hier besprochenen Band nicht verpassen.
Stefanie Kempers „Orte“
sind deshalb so entdeckenswert, weil sie auf hohem Niveau viel Abwechslung in
der dichterischen Bearbeitung des Themas bieten. Nicht nur sehr
unterschiedliche Orte werden gezeigt, auch verschiedenste Sprachstile und
Stimmungen, hier ernst und nachdenklich, dort heiter und satirisch, hier kunstvoll
und dort schlicht. Ein schöner, ausbalancierter Gedichtband, der zu
gedanklichen Ausflügen vom Sofa aus einlädt.
Rezension von Sibylla Vričić Hausmann
Stefanie Kemper: Orte – Lyrische Impressionen aus allen Himmelsrichtungen.
Wiesenburg Verlag 2011.