Donnerstag, 29. November 2012

wir sind aufeinander gestimmt, wir haben zeichen im blut


wir sind aufeinander gestimmt, wir haben zeichen im blut
die abdrücke von zwei hufen, die beim gleichen schmied waren.
du kannst wegkriechen, aber welches halbe pferd kann springen?
wenn du so halb im sand liegst, verschmelzen wir wieder.
auch ich will weglaufen, weil wir wahnsinnig werden im schnee.
niemand, der uns sieht, ist auf die klebrigen fäden gefasst
die uns verbinden wie unterseeische kabel die kontinente.
ich werde ruhig, wenn wir im auto sitzen & fast einschlafen.
ich denke, wir sind ein tier mit zwei herzen & zwei augen.
wollen wir vernünftig sein, müssen wir zum schlachthof gehen.

von Carl-Christian Elze

Das Gedicht stammt aus dem Band ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist. luxbooks, Wiesbaden 2012, der im Dezember erscheinen wird.

Carl-Chritian Elze *1974 in Berlin, lebt in Leipzig. Er studierte Biologie und Germanistik, und später am Deutschen Literaturinstitut Leipig, schreibt Lyrik, Prosa und Drehbücher. Der Vorgänger-Band ist gänge. Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2009. Er hat in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht (z. B. Lyrik von Jetzt 2, Neubuch, Bella Triste, Edit) und viele Auszeichnungen erhalten, darunter der Lyrikpreis München 2010 und poet in residence in Dresden-Loschwitz 2013.

Mittwoch, 21. November 2012

Liebe Eva,

es kommt mir so vor, als frage jeden Tag einer "Hast du Lust, Tatort zu gucken?" - ist aber nicht jeden Tag. Es ist schon wieder Sonntag. Eigentlich hat sich seit der Ankunft in Leipzig Ende Oktober ja schon viel getan. Zahlreiche Behörden habe ich von innen gesehen, zahlreiche nummerierte Zettel gezogen, die gröbsten Dinge zur Wiederaufnahme in die deutsche Gesellschaft angestoßen - und doch staut sich da so eine Ungeduld an, eine Unzufriedenheit oder Unfähigkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es scheint mir, jetzt ist bald Weihnachten (am Weihnachtsmarkt bauen sie jedenfalls schon wochenlang rum) und dann ist Silvester und am Neujahrstag wird sich bewahrheiten, was ich bereits ahne: 2012 kann ich eh nichts mehr reißen.

Einen guten Monat sind wir also hier, meine Bosnier und ich. Die Stimmung ist durchwachsen. "Warum tragen die Deutschen alle Jack Wolfskin-Jacken? Was hat es damit auf sich?" "Warum bekomme ich beim kollektiven Pizzaessen immer ein exakt gleich großes Stück zurück, wenn ich jemanden von mir probieren lasse? Und wo ist die Majonnaise?" Ich weiß es nicht und es gibt relevantere Fragen. Aber diese leichte Befremdung spüre ich auch, in beide Richtungen. In meinem letzten Brief hatte ich ja angekündigt, etwas über bosnisch-deutsche Fremdbilder zu schreiben. Leider überwiegt in meiner Wahrnehmung, wahrscheinlich auch ausgelöst durch den kleinen Kulturschock, momentan eher das Negative und Klischeehafte. Wenig Gemeinschafts- und Familiensinn vermutet man auf der einen Seite, überkommene Beziehungs- und Familienmodelle auf der anderen. Bosnier denken vielleicht: "Euer Wohlstand ist unbegrenzt, ihr habt es so leicht" und Deutsche: "Eure Armut ist selbstverschuldet, ihr habt keinen Organisationsgeist und einen Hang zur Kriminalität". Aber vielleicht überbewerte ich momentan auch reservierte Gesichter und Fragen wie "Was macht man denn da unten, in Bosnien und Herzegowina?"

Erst einmal muss ich die Umwälzungen in meinem bosnisch-deutschen Leben etwas besser verdauen, bevor ich überzeugende Worte und Schlussfolgerungen finde. Deshalb halte ich es heute kurz und verbleibe mit einem Fragezeichen.

Gute Nacht,
Sibylla