Samstag, 30. April 2011

Liebe Eva,

der Begriff Bionadebiedermeier scheint sich wachsender Beliebtheit zu erfreuen, ich hatte ihn, trotz meiner Distanz zum deutschen Sprachraum, auch schon mehrmals gehört und nun kürzlich in der BELLA triste gelesen. Sein Reiz besteht in der Alliteration und seinem oxymoronischen Charakter, da Bio-Produkte bis vor einigen Jahren noch für eine alternative und fortschrittliche Lebensweise standen, das Gegenteil also von konservativem Biedermeiertum. In der BELLA triste 29 behauptet Paul Bodrowski, dass "die Gegenwartsliteratur primär von Klavierunterrichtnehmern und Bionadebiedermeier durchdrungen ist", also von Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Mittelschicht. Surprise! Sind doch mindestens bürgerliche Existenzbedingungen Voraussetzung, um sich mit Unterstützung, Zeit und Muße der Literatur widmen zu können. Die verbreitete, mehr oder weniger gefakte Autorenbiografie (welche Biografie ist nicht gefakt?) "hat sich als Mitglied einer Jugendgang, Gärtner, Kellner, Postbote... durchgeschlagen, bevor er sich als freier Schriftsteller etablierte", finde ich Kitsch, bürgerlichen. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen Kitsch.

In Bodrowskys Essay geht es in erster Linie darum, dass in gegenwärtiger deutschsprachiger Prosa der übermächtige Gegner eines repressiven Herrschaftssystems als dramatisches Element fehle. Bodrowsky ist der Meinung, dass das eben nicht an der freiheitlichen deutschen Gesellschaft liege, sondern daran, dass sich Autoren wie Figuren der Texte im Mittelschichtmilieu bewegen, in dem staatliche Repression und Existenznot wenig zu spüren sind. Da ist etwas dran... und trotzdem, nach fast zwei Jahren Mostar muss ich sagen, Deutschland geht es gut und es kümmert sich doch um alle ein bisschen. Es ist ein Unterschied, ob es um mehr oder weniger geht oder - wie hier - um nichts oder weniger als nichts. Es ist ein Unterschied, ob man sich als Mitglied einer breiten bürgerlichen Mittelschicht Gedanken über die Grenzen seines eigenen geistigen Horizonts macht, oder ob man in einem Land aufgewachsen ist, in dem gar keine einflussreiche Mittelschicht existiert. Von Vorteil für die Literatur ist das jedenfalls nicht.

Diese Überlegungen als Wort zum morgigen Tag der Arbeit. Der ist hier so beliebt, dass man, da er auf einen Sonntag fällt, gleich Montag und Dienstag mit als Feiertage ausgerufen hat. Wenigstens etwas fürs Volk.

Liebe Grüße,
Sibylla

Montag, 18. April 2011

Altweibersommer

Die Spinnweben
verfangen in ihrem Haar
flechten Sonnenstrahlen
zu einem perlmuttfarbenen
Schleier

Da war die Küche
sagt sie
händekreisend zu
einem Ofen formend
teigverklebte Fingerspitzen
lachen die letzten Sonnenstrahlen
aus

Da wo früher die Küche
jetzt die Spinnweben
zaghaft
Erinnerungen verschleiern
sagt sie

Da wohnt mein Kind
meine Seele
verkrustet
begräbt sie die Stille
verkriecht sich
in geflochtenem Stein.

Dorothee Baumann *1985 in Stuttgart, lebt in Mostar. Nach Studienaufenthalten in Münster, Lille (Frankreich) und Twente (Niederlande) unterrichtet sie heute als Lektorin der Robert Bosch Stiftung an der Universität Džemal Bijedić in Mostar Germanistik. Seit Januar 2010 gibt sie mit zwei KollegInnen des Lipa South East Europe Networks e.V. das Online-Magazin Post aus Südost heraus. www.postaussoe.de