Freitag, 29. Oktober 2010

Liebe Sibylla,

so wie du den Begriff jetzt beschrieben hast, kann ich ihn viel besser nachvollziehen. In dieser Form ist Versehrtheit auch eine Frage der Ästhetik – Schönheit mit Brüchen ist spannender, das Schöne im Hässlichen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann empfehlen (habe ich heute fertig gelesen). Der Roman geht allerdings über Brüche hinaus, er beschreibt eine kaputte 16-Jährige und ist ziemlich hart, so zugespitzt, dass es auch witzig ist. In Form und Inhalt radikal enthält er Gesellschaftskritik ohne zu moralisch zu sein. Man merkt, dass sie stark von Theaterleuten wie Pollesch und Schlingensief beeinflusst ist. Also ich hatte zunehmend mehr Spaß und fand ihn am Ende richtig intelligent und punkig.

Ich finde es super, dass du bei dem Literaturfestival in Priština gelesen hast, und dass es gut war. Hast du mit den anderen eigentlich auch mal über ihre Existenzbedingungen als AutorInnen geredet? Wir haben ja beide kurzfristig einen beruflichen Rahmen, Ruhe. Aber dieses ganze Warten, Bewerben und sich Fragen ist noch sehr nah und kommt wahrscheinlich auch mal zurück. Allerdings hoffe ich, dass wir das Schlimmste geschafft haben. Habe diese Woche ein Interview mit Christiane Rösinger gelesen, und sie sagt zu Recht, dass es eigentlich gar keine Bohemians mehr gibt, sondern nur noch Prekariat. Wenn ich an meine berufliche Einstellung mit Anfang zwanzig zurück denke, hat sich da viel geändert. Früher war mein Hauptziel immer, ja nicht zuviel zu arbeiten und schon gar nicht etwas, das langweilig bzw. normal ist. Jetzt werde ich sehr froh sein, überhaupt mit einer Arbeit Geld zu verdienen, für die mich irgendwie mein Studium qualifiziert. Und Geld wird entgegen meiner Erwartungen doch immer wichtiger… Als Studentin mit leicht überdurchschnittlichem Unterhalt kann man noch behaupten, Geld sei einem nicht so wichtig. Keine Angst, ich bin jetzt nicht völlig verdorben und Veröffentlichungen werden mir mehr Befriedigung als Geld verschaffen, aber das Leben in diesem System ist nur ok, wenn man mitkonsumieren kann. Von diesem Luxusspaß abgesehen, will man ja wenigstens seine Miete und sein Essen selber zahlen können. Ich bin wohl noch davon beeinflusst, dass ich gestern nach sehr langer Zeit persönlich was beim Jobcenter klären musste. Es ist jedes Mal deprimierend und macht sehr wütend. Und es gibt danach immer viel zu erzählen, schon komisch, dass das so aufwühlt. Das Rollbergkino, vor dessen Schild ich lange in der Schlange stand, bietet Di-So Ermäßigungen für Schüler, Studenten und ALG II-Bezieher. Da fehlen nur noch Rentner und man kann lebenslänglich vergünstigt ins Kino…

Viele Grüße,

deine Eva

Montag, 18. Oktober 2010

Liebe Eva,

am Sonntag bin ich von dem Poesiefestival "Polip" in Priština, Kosovo, zurück gekommen und bin noch ganz erfüllt von den vielen neuen Eindrücken, der guten Atmosphäre auf den Veranstaltungen, der meist sympathischen Chaotik der Stadt, dem Kennenlernen der anderen Dichter/innen und ihrer Texte. Schön war vor allem die abwechslungsreiche Gestaltung der Lesungen, es wurden u.a. Gedichte auf Albanisch, Kroatisch, Deutsch und Serbisch gelesen, außerdem gab es Livemusik, Hörspiele und Videoprojektionen. So war es stets spannend und unterhaltsam, auch wenn man nicht alle Sprachen verstanden hat und sich streckenweise mit dem reinen Sprach-Klang zufrieden geben musste. Sehr beeindruckt hat mich der aus Albanien stammende Dichter Ilir Ferra, der in Österreich lebt und auch auf Deutsch schreibt. Ein noch weit entferntes Ziel für mich, in der hiesigen Sprache schreiben zu können... Ich selber habe an erster Stelle Gedichte zu besonderen Orten in Bosnien und Herzegowina gelesen.

In deinem letzten Brief stimmst du mir zwar zu, dass Versehrtheit ein wichtiger Begriff in der Literatur ist und dass er die Ausstrahlung von Mostar gut beschreibt, stehst ihm aber auch skeptisch gegenüber. Wer möchte schon versehrt sein? Und welche Literatur mit dem Attribut "therapeuthisch" versehen? Ich verstehe was du meinst. Allerdings denke ich bei Versehrtheit, auch bei der von Mostar, gar nicht so unbedingt und automatisch an Krieg und Schmerz. Es stimmt, es geht hier auch 15 Jahre danach ständig um den Krieg und wie können die Narben wirklich heilen, solange die Stadt geteilt ist? Trotzdem gibt es für mich auch eine eher symbolische Ebene, auf der ich mich von den realen Geschehnissen, die schrecklich waren, distanzieren kann. Die Einheimischen mögen es verständlicherweise nicht, dass die Touristen so gerne die skurrilen Ruinen mitten in der Stadt, Zeichen der Versehrtheit, fotografieren. Aber für die Touristen und auch für mich, irgendwo im Dazwischen verortet, sind diese Gebäude erstmal nur interessant, nie gesehen, unerhört, sogar schön mit Rostflecken, Glasscherben und wuchernden Pflanzen. Bei aller Betroffenheit ist finde ich auch diese Perspektive verständlich.

Das ist so ein bisschen das Gegenteil von therapeutisch, entspricht so einer gewissen menschlichen Lust an der Traurigkeit, wie sie übrigens besonders gekonnt in Sevdah-Liedern, den typisch bosnischen, stets von unerfüllter Liebe handelnden Volksliedern gepflegt wird. Über diese Liedtradition gibt es einen Film, der unter anderem in Mostar spielt, hier ist der Link zu einem Teaser: http://www.youtube.com/watch?v=u3QS6A6_Xi0
Der Film heißt einfach "Sevdah", ist von Marina Andree und ist sehr empfehlenswert. Wer sich für BiH interessiert, sollte ihn unbedingt schauen.

Soviel für heute. Liebe Grüße!

Sibylla

Freitag, 15. Oktober 2010

verortet

alles in allem der provozierende regen
der fade bleigeschmack im zwielicht ich
kaute den ortskern vermaß den eigenen
schatten hinterrücks zogen die wolken

vorbei der gaffenden gab ich ein
rätsel auf wer denn die statik
der bäume bestimme wenn nicht sie und trottete weiter
es ging weder bergauf noch bergab

hier herrschte das mittelmaß selbst
die prügelei an der ecke ging unblutig aus
man gab sich damit zufrieden nicht gewinnen zu können

und tröstete sich später sagte ich über
die rissige karte gebeugt ein ort an dem nichts
mehr geschieht wird irgendwann verschwinden

von Thomas Rackwitz

Thomas Rackwitz * 1981, lebt in Berlin und Gröbers, zuletzt erschienen „in halle schläft der hund beim pinkeln ein“ und „grenzland“ (mehr unter www.thomasrackwitz.de).