Dienstag, 29. Januar 2013

Liebe Eva,

"Familie ist als Herausforderung nicht zu unterschätzen", schön hast du das gesagt. Da fällt mir die Stelle in "Karte und Gebiet" ein, in der sich Houellebecq böse über das Thema auslässt: "Manche Menschen versuchten sich während der aktivsten Zeit ihres Lebens zu Mikrogruppierungen names Familien zusammenzuschließen, die die Reproduktion der Gattung zum Ziel hatten; aber diese Versuche schlugen meist aus Gründen fehl, die mit dem Wesen der Zeiten zutun hatten". Interessant ist diese Stelle allemal, v.a. in der erst drastisch, dann aber doch realistisch wirkenden Einschätzung, dass Familien meistens scheitern. Nicht ganz klar ist jedoch, was mit "Wesen der Zeiten" gemeint ist. Wahrscheinlich die gegenwärtige ultra-individualistische Tendenz, die dem Prinzip des engen familiären Zusammenschlusses konträr gegenüber steht. Eines Prinzips, das Kompromissbereitschaft, wenn nicht gar so etwas wie Selbstlosigkeit, "Demut", erfordert, jedenfalls die Unterordnung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse unter das Wohl eines "Ganzen".

Heute habe ich überlegt, ob ich jetzt eigentlich in Leipzig wohnhaft bin, oder vielleicht doch in Leipzig UND Mostar (das liest man doch oft: "Dedede wohnt in Köln und Rom"...)? Immerhin haben wir dort ein Haus, dessen Wände in meinen Lieblingsfarben gestrichen sind. Und wir haben auch vor, regelmäßig dorthin zurückzukehren. Ich vermisse Mostar, Bosnien im Allgemeinen, fühle mich an das Land gebunden. Aber dieses Gefühl der Leichtigkeit, das mich überkommt, wenn ich in Sarajevo aus dem Flugzeug steige, besteht zum Teil auch daraus, dass es eben nicht mein Heimatland ist, ein bisschen geheimnisvoll, ein Fluchtort, an dem ich noch "Mensch sein" kann. Und der Alltag dort war dann doch hart, wirklich hart. Und: Ich habe, besonders als ich in Mostar lebte, auch meine unschöne Geburtsregion manchmal vermisst. Die weiten Felder, Waldwege, Moos und Moder und Kornblumen und sich akkumulierende Windräder um Wolfsburg herum. Zu Hause bin ich dort aber lange nicht mehr. Was für ein komplizierter, emotionaler Knoten diese Zugehörigkeit zu bestimmten Orten doch ist!

Liebe Grüße,
Sibylla

Dienstag, 15. Januar 2013

seeblick


seeblick                 defektes tastfeld mit einem
wisch wären wir leicht und fett wie ausgestorbene so weich in öl-in-wasser-emulsion
das meer, das abgekartete

Gedicht von Charlotte Warsen

Charlotte Warsen, *1984 in Recklinghausen, lebt in Berlin. Sie studierte Kunst, Philosophie und Amerikanistik an der Kunstakademie Düsseldorf (Klassen Lüpertz und Tal R), in Köln und Finnland. Seit 2011 Promotionsprojekt in der Philosophie. Veröffentlichungen in Zeitschriften (u.a. randnummer, Bella triste) und Anthologien; Finalistin beim 19. Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin. www.charlottewarsen.de